Entspannung statt Erschöpfung
Was hat Burnout mit dem Waldsterben zu tun und
was nutzt mir die Antwort darauf?
Burnout
Druck, Stress, die Enge … und immer weiter … Alles wird schwerer und leerer: die Gedanken, das Sehen und Gehen. Und immer die Sehnsucht, dass das aufhört, endlich Ruhe, endlich abschalten. Aber selbst wenn es abends vorm Fernseher ruhig wird, so lauert die Spannung unterschwellig und ohne Gnade. Und irgendwann lassen die Kräfte nach, ich bin ausgelaugt, aber immer weiter und dann der Zusammenbruch, die Erschöpfung. Endlich Ruhe, aber voller Schwere und Enge. – Im Berufsleben nennt man das Burnout.
Lebendige Ruhe
Einen Computer oder auch ein Auto kann man abschalten. Ein Lebewesen hat aber keinen Schalter!
Lebewesen wie wir Menschen pulsieren. Wir bewegen uns auf die Welt zu und erleben das als Spannung und wir bewegen uns auf unser Zentrum zu und erleben das als Entspannung. Und in der Entspannung erleben wir Befriedigung. Dies ist die lebendige Ruhe, die wir brauchen.
In unserer Atmung können wir das gut beobachten. Im Einatmen weitet sich der Brustkorb zur Welt und im Ausatmen entspannt er sich zum Zentrum. Die Atemwende dazwischen wird nicht gemacht, sondern geschieht. Es ist der Moment der Hingabe.
Nicht kontrollierendes Schalten, sondern vertrauensvolles Loslassen ist das zentrale Merkmal des Lebens. Es entscheidet über Erschöpfung und Befriedigung.
Ja, es fällt oft schwer, die Wende zwischen Spannung und Entspannung zuzulassen. Drei Beispiele:
Schlaf
Am Tag gehen wir auf die Welt zu, gestalten und erleben uns als gespannt und aktiv. In der Nacht folgt im Schlaf die Bewegung zum Zentrum: die Erfahrungen des Tages werden integriert und wir erleben die entspannte Ruhe. Der Wechsel vom Tag zur Nacht, die Hingabe im Einschlafen fällt aber vielen schwer: noch diesen Film schauen oder jenen Gedanken denken … [i]
Ohne die Hingabe ins Einschlafen überkommt uns der erschöpfende Schlaf, ohne tatsächlich zu entspannen und dies merken wir am nächsten Morgen beim Aufwachen.
Denken
Auch unsere Gedanken möchten dem lebendigen Rhythmus folgen. Sie wollen die Welt erschließen, verstehen, beschreiben und sie wollen sich von ihr zurückziehen, sich zentrieren und darin entspannen. Aber auch dies zuzulassen, ist oft schwer. Da ist die Angst vor der Leere des Nichtdenkens. Notfalls denken wir immer wieder dieselben Gedanken. Und auch dies Grübeln führt zur Erschöpfung und nicht in die Entspannung.
Sex
Auch in der Sexualität können wir aktiv gestalten, die Spannung, den Reiz weiter steigern. Aber den Wendepunkt – hier nennt man ihn Orgasmus – können wir nicht machen, sondern nur annehmen. Gerade weil dem Orgasmus als „Höhepunkt“ so viel Bedeutung zugeschrieben wird, ist es schwer, sich den unwillkürlichen Zuckungen einfach hinzugeben.[ii] Ohne diese Hingabe werden wir vielleicht mit viel Getöse zusammensacken, aber außer Erschöpfung wird nicht viel übrigbleiben.
Angespannte Normalität
All dies erscheint uns schon wie Normalität. Ein spannendes Leben ist längst zum Ideal geworden. Vor allem der Kontrollverlust scheint gegen das Zulassen der unwillkürlichen Wendepunkte zu sprechen. Entspannung wird in der Erlebnisgesellschaft als luxuriöses Erlebnis zelebriert.
Burnout, Einschlafprobleme, Grübeln, unbefriedigter Sex und noch sehr viel mehr sind unterschiedliche Aspekte unseres Lebens. Und doch sind sie identisch darin, dass der Wendepunkt nur halbherzig zugelassen wird und wir in die Erschöpfung fallen.
Diese Miniburnouts sind so verbreitet, dass wir Erschöpfung oft schon für Entspannung halten. Die fehlende Hingabe wird ignoriert und das lebendige Pulsieren erscheint fremd.
Umwelt der Dauerspannung
Konsequenterweise gestalten wir uns eine stimmige Umwelt, die der Dauerspannung und fehlenden Hingabe angepasst ist:
- Straßen, die keine Rast kennen
- Smartphones, die nie still sind
- Städte, die niemals schlafen
- Freundschaften, die per Klick geschlossen und auch wieder gelös(ch)t werden[iii]
Aber nicht nur uns, sondern auch der Natur gestalten wir so eine Umwelt des Dauerstress.
- Straßen, die Lebensräume durchschneiden
- Dauerkrach, Elektrosmog und Lichtmüll, der niemand zur Ruhe kommen lässt
- Tonnen von Gift auf den Äckern, die den Überlebenskampf aussichtslos machen
Tiere und Pflanzen verlieren wie wir das Vertrauen ins Leben und können sich dem nicht mehr hingeben. Wenn der Wald als „erschöpft“ dargestellt wird, so ist das keine Metapher, sondern eine realistische Beschreibung. Kranke Wälder, tote Flüsse und leere Landschaften sind Anpassungsleistungen an eine Umwelt, die wir für unsere Dauerspannung benötigen.
Was hat Burnout mit Waldsterben zu tun?
Burnout und Waldsterben sind in vielen Aspekten unterschiedlich und doch sind sie identisch in der Erschöpfung. Es sind verschiedene Arten, die fehlende Hingabe an das Leben auszudrücken.
Erschöpfung. Was habe ich von dieser Antwort?
Unsere Erschöpfung ist uns schon längst selbstverständlich. Bevor dies auch mit dem Waldsterben geschieht, haben wir die Möglichkeit, noch einmal hinter den Schleier der Selbstverständlichkeit zu schauen: das Waldsterben ist ein Spiegel unserer eigenen Erschöpfung, unserer Angst vor der Hingabe, unserer trostlosen angespannten Ruhe. Wir können hier einen Zugang zur eigenen Situation annehmen.
Wer der Antwort zustimmt, kann außerdem eine neue Perspektive im Handeln einnehmen: Umweltprobleme löst man nicht durch noch mehr Zurückhaltung, Sparen, Verzicht und Disziplin, sondern durch Hingabe. Wer sich die Unwillkürlichkeit der Wende zwischen Spannung und Entspannung zugesteht, wird befriedigt und benötigt so eine Umwelt nicht mehr.
Ich finde das verlockend.
Die Argumentation klingt nicht stimmig?! In der Antwort auf den ersten Kommentar versuche ich eine Klärung.
[i] Die Ähnlichkeit mit und die Angst vor dem letzten Wendeerleben, dem Sterben ist doch recht groß. Was passiert, wenn ich in die Kontrolllosigkeit und ins Dunkle gleite? Wie stark ist mein Vertrauen ins Leben, vom Morgen wieder geweckt zu werden?
[ii] Die Idee, Spannung zu halten, führt in der Sexualität zur Renaissance des Coitus reservatus. Er dient aber nicht der Empfängnisverhütung, sondern ist eine tantrische Übung, die Spannung aufrechtzuerhalten. Befriedigende Entspannung nach der Hingabe wird hier als „Energieverlust“ interpretiert.
[iii] Vgl. Begriffe der Beschleunigung und Entfremdung in Hartmut Rosa: „Resonanz“
Die Bilder sind aus pixabay und eigene Fotos
Ein schöner Artikel, werde ihn noch ein (paar) Mal(e) lesen …. nur kurz ein erster Eindruck: Der letzte Abschnitt ist zu kurz. Wie kann Hingabe an die Umwelt aussehen? Wenn Hingabe = Geschehenlassen wie in den Beispielen ist, geht es dann um Blühwiesen, Steine weg, wilde Wälder … Wenn uns das erstrebenswert und schön erscheint, dann ist Hingabe in gewissem Maße sicher möglich. Wenn ich aber nun die Ordnung lieber mag …. ? Liebe Grüße, Ela
Hallo Ela, vielen Dank, dass du die Kommentare eröffnet hast😊
Ja, der hintere Teil ist zu kurz! Ich versuche meine Argumentation zusammenzufassen. Vielleicht führt das weiter.
Ich gehe davon aus, dass man die Lebensprozesse grob mit Spannung – Wende – Entspannung beschreiben kann. Außerdem fällt es uns gestaltende und kontrollierende Menschen schwer, die Unwillkürlichkeit in der Wende zuzulassen. Hingabe heißt, darauf zu vertrauen, in der Unwillkürlichkeit nicht tiefer als in das Leben zu fallen.
Ohne Hingabe: Erschöpfung, Burnout, … und eine Gestaltung der Umwelt, die zu Menschen ohne Hingabe passt. Das ist dann nicht schön, aber stabil. Eine pulsierende Umwelt würde uns nur Angst machen. Dann lieber eine starre Maschinenwelt
.
Diese Welt ist aber eben auch die Umwelt für die Tiere und Pflanzen (Anthropozän) und sie müssen sich ihr anpassen. Zwei etwas extreme Beispiele:
Ein Tiger im Zookäfig kann nicht auf die Lebensfunktion vertrauen, sich ihr hingeben. Das würde in dieser Umwelt einfach nicht funktionieren. Stattdessen macht er es wie die Menschen: er misstraut seiner Unwillkürlichkeit und resigniert und erschöpft. Übrig bleiben mechanische immer gleiche Gänge am Gitter entlang.
Die Maispflanze muss eine völlig artfremde Umwelt aushalten. Es gibt keinerlei ökologische Einbindung in einem Verbund aus Tieren und Pflanzen. Außer Nährstoffe bekommt sie nichts. Bevor hier die Erschöpfung sichtbar wird, wird sie allerdings geerntet und durch eine andere Pflanze ersetzt. Anders ist das beim Wald. Er ist älter. Hier können wir die Resignation deutlich beobachten.
Es mag sein, dass wir unsere gestaltete Umwelt mit ihrer Zersiedelung, Standardisierung der Bepflanzung Vernichtung der Artenvielfalt, Naturreservaten usw. mögen oder nicht mögen, schön oder nicht schön finden, aber es ist genau die Umwelt, die wir brauchen! Die uns angstmachende Unwillkürlichkeit wird mit einem riesigen Aufwand kontinuierlich reduziert. Der Steingarten ist dafür ein gutes Symbol. Darum wird Naturschutz auch primär als ein technisches Thema angegangen (E-Autos ….). Wir wollen saubere Technik ohne jegliche Hingabe an das Leben. Es soll nett aussehen, aber uns keine Angst machen.
Mein Vorschlag: Es geht nicht um die Natur da draußen, sondern um die eigene Hingabefähigkeit ans Leben. Lasst uns lebendiger werden, indem wir uns um unsere Angst vor der Unwillkürlichkeit kümmern und mehr Vertrauen ins Leben zulassen. Wir würden ohne diese Angst anders arbeiten, einschlafen, denken, Sex machen usw. Und wir würden eine Umwelt zulassen, die lebendiger ist, der Natur mehr Raum für Hingabe lässt. Wir müssten sie nicht mehr schützen, sondern könnten mit ihr das Leben in seiner ganzen Unterschiedlichkeit entfalten.
Wie immer habe ich deinen Text mit Interesse und
„Hingabe“ gelesen…..
Die Auseinandersetzung mit Angst und Depression/Burnout ist meines Erachtens eines der wichtigsten Themen überhaupt.
Den Bogen/Spiegel zwischen der eigenen inneren Struktur und unseren drängenden Umweltthemen finde ich gut dargestellt.
Deine Angst vor dem Unwillkürlichen teile ich nicht.
Die eigene individuelle Angst als kollektive Angst einzuordnen finde ich fraglich…hilfreicher finde ich die eigene Angst der eigenen Lebensgeschichte zuzuordnen.
Dann wird deutlich dass unsere Ängste sich so unterschiedlich darstellen wie unsere Lebensgeschichten.
Und das unsere Ängste die Hingabe zur Liebe ins Leben erschweren und Ursache unseres wenig liebevollen Umgang mit unserer Welt, da bin ich wieder „kollektiv“ dabei…..
Lieben Gruß aus der Bretagne
Annette
Liebe Annette,
schön von dir zu hören und Danke für deine Sichtweise. Hier kommen ein paar Sätze dazu ….
Leben wird als Wort immer wichtiger, aber als konkrete Orientierung immer unwichtiger und wird z:B. ersetzt durch technische Strukturen. Wir verlieren den Kontakt zu unserer eigenen Lebendigkeit und zur Lebendigkeit um uns herum. Das Leben wird uns fremd.
In dem Text geht es nicht um die Suche nach individuellen und kollektiven Ursachen davon.Ich möchte vielmehr beschreiben wo die Tür zum Leben zugeht und wo sie evtl. wieder geöffnet werden kann. Dazu suche ich einen Zugang und Identitäten. Der Spiegel funktioniert nur wenn diesseits und jenseits etwas identisch ist. Dazu benötige ich nicht die ganze Differenziertheit der Ängste und auch nicht die Ursachen im Lebensweg.
Ich denke, dass die Hingabe ein wesentlicher Zugang ist. Damit aber nicht wie so oft „Hingabe ans Leben“ eine nette Floskel bleibt, bedarf es konkreterer Aussagen. Darum habe ich eine verkürzte Definition (in Anlehnung an Wilhelm Reich) von Leben benannt. Hingabe bedeutet für mich, diese Lebensprozesse auszudrücken ohne sie bewusst oder unbewusst in den Griff zu nehmen: also Unwillkürlichkeit zulassen.
Ja, ich glaube, dass für uns planende und gestaltende Europäer die Wende zwischen Spannung und Entspannung besonders heikel ist. Dass das gesellschaftliche Relevanz hat, habe ich durch die weitverbreiteten Beispielen gezeigt. Wenn du dich da nicht wiederfindest, OK.
Die Tür schließen heißt demzufolge, der Unwillkürlichkeit aus dem Weg gehen und somit die Hingabe nicht zulassen. Ob dies z. B. eher zwanghaft festhaltend oder narzisstisch ausagierend geschieht, finde ich hier zweitrangig.
Ja, im Gegensatz zu dir gehe ich davon aus, dass das Ausweichen vor der Unwillkürlichkeit grundlegender ist als die vielen spezifischen Ängste.
Ich möchte, dass die Orientierung am Leben wieder mehr Raum bekommt, wir uns deutlicher in der lebendigen Natur sehen. Das ist meine Perspektive und dazu dieser Text.
Liebe Grüße
Ingo
Du schreibst, dass du den Text mit „Hingabe“ gelesen hast.
Könntest du evtl. sagen, wem oder was du dich hingegeben hast und was für dich Hingabe bedeutet?
Vielen Dank und liebe Grüße
Ingo
Ja, ich kann’s versuchen….
Politische Werbetexte lese ich zur Zeit ohne Hingabe. D.h ich lese sie, gehe aber schon vorher davon aus: ich weiß sowieso was drin steht …..und natürlich habe ich Recht, es steht drin, was ich vermutet habe…
Deinen Text lese ich anders- eben mit Hingabe.
D.h ich versuche mich „leer“ zu machen, unsrere persönlichen Themen hinten an stehen zulassen und mich auf deinen Text einzulassen….mich überraschen lassen was da kommt…..eben nicht gleich zu werten , zu urteilen, einzusortieren usw …..so wie ich Gedichte lese…. wahrnehmen was zwischen den Zeilen steht…. den Text klingen lassen, spüren was da steht…..
dazu muss ich vorher zur Ruhe kommen, brauche Zeit und Muße…..so gelingt es dann manchmal mit Hingabe zu lesen….
Lieben Gruß Annette
Liebe Annette,
Danke. Da kann ich was mit anfangen!
Ingo