Wer will ich (gewesen) sein?

Wer bin ich? ist eine allgegenwärtige Frage: wenn ich in Portalen mein Profil ausfülle, mich in Bewerbungen präsentiere oder auch nur im Beruf oder Freundeskreis vorstelle. Wer bin ich? Was macht mich aus? Und wie stelle ich mich dar: nörgelnd, euphorisch oder einfach nur selbstbewusst?

Ziele Wege Endlichkeit Hingabe Unwillkürlichkeit

Und natürlich kann ich mir diese Frage in einer ruhigen Minute auch selber stellen: Wer bin ich? Wer bin ich? …
Das können tiefe, aber auch ungemütliche Momente sein. Erfülle ich die Erwartungen der Anderen, die eigenen Ansprüchen?

Nein! Da ist häufig eine kränkende Leere, ein Gefühl, nicht zu genügen und der Wunsch, mich zu ändern.

In der Persönlichkeitsentwicklung gibt dazu spannende Perspektiven.

Wer will ich sein?

In der ersten Herangehensweise denke ich mich anders als ich bin. So werden zum Beispiel auf der Basis von Bedürfnissen oder auch Visionen und Träumen konkrete Ziele formuliert: So will ich sein! Dies ist eine Art Zauberspruch, der die aktuelle Situation mit der Zukunft verbinden soll. Hier stehe ich und dort hinten steht das Ziel. Eine Zielaufstellung kann dies deutlich machen. Durch die Bearbeitung der Hindernisse und Ressourcen wird der Weg zwischen den Polen sichtbar. Die Spannung zwischen Jetzt und Anders gibt die Energie. Dieser zielgerichtete Blick in die Zukunft formt Veränderung zu einem gestaltbaren Prozess. Welcher Schritt führt mich im Beruf weiter? Wie kann ich die Lust in meinem Leben stärken? Usw.

Wer will ich gewesen sein?

Tod Rückblick wer will ich gewesen sein

Im Angesicht des Todes zeigt sich oft eine andere Perspektive mit existentiellen Fragen: Bin ich mir gerecht geworden? Habe ich mich vor meinem Leben gedrückt? Was ist mir tatsächlich wichtig? Und wenn ich jetzt noch etwas Zeit hätte, was würde ich dann machen?

Fragen, die sich Menschen evtl. im Krankenhaus stellen. Aber ich kann auch heute meine Lebenslinie mit Anfang und Ende aufstellen und mich dazwischen verorten. Die Endlichkeit wird so spürbar. Von dort kann ich sehr langsam bis zum Tode vorgehen und auf das Gelebte zurückschauen. Das ist der Rückspiegel der Zukunft meines Lebens. Und dort kann ich einen Nachruf auf mich schreiben, Bilanz ziehen und der Frage nachgehen: Wer will ich gewesen sein?[1]

Diese irritierende Konfrontation mit dem Tode kann unsere übliche Sicht in Bewegung bringen und Veränderung ermöglichen.

Ohne Wille – unwillkürlich

Wer will ich gewesen sein Hingabe Ziele Unwillkürlichkeit

Zielorientierung und Irritation haben beide die Veränderung meines Lebens im Fokus. Es sind mächtige Werkzeuge das Leben zu meistern. Aber zu meinem Verständnis von Leben gehört eben auch dazu, gerade davon abzulassen, es auszuhalten, nicht zu gestalten.

Raum zu geben für das Unwillkürliche.
Das was unserem Selbstbild so widerspricht, weil es eben nicht gemacht werden kann.

Es geht um Hingabe, aber eben nicht an Personen oder Ideen.
Es geht um Vertrauen, Vertrauen, von der eigenen Lebendigkeit aufgefangen zu werden und sich darin fallen lassen zu können.

Für mich ist das die eigentliche Herausforderung des Lebens.

Und erst so stimmt der Satz, dass Veränderung das sichtbar macht, was in mir angelegt ist.


Quelle

1. Diese Perspektive wird im Philosophie Magazin Nr. 2/2022 ausführlich dargestellt. Spannend ist auch das Interview mit Harald Welzer zum Thema „Endlichkeit als Befreiungsschlag„.

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8 Kommentare
  1. Ela
    Ela sagte:

    Hallo
    Vergleiche auch Ingos Artikel „Ziele sind nicht zum Erreichen da“:) Mit der Frage „Wer bin ich?“ konnte ich noch nie etwas anfangen. Zuviele Gesichtspunkte. Worauf kommt es da an? Ich bin die, die gern liest? Oder die, die nie lacht? Die gern laute Musik hört? Schwierig. Eigentlich nur mit dem Namen zu beantworten. Aber „Wer will ich gewesen sein?“, das ist wirklich spannend! Ist das identisch mit „Wie sollen die Menschen mich in Erinnerung behalten“? Macht auch ein bisschen Angst. Wenn ich darüber erst im Angesicht des Todes nachdenke, dann ist es zu spät. Schlimmer noch – vielleicht zeigt er mir sein Angesicht gar nicht. Gut, dann kann ich mich auch nicht mehr verrückt machen.
    Da gefällt es mir wirklich besser, „nicht zu gestalten“! In diesem Sinne wünsche ich einen schönen Sonntag

    Antworten
    • Ingo Diedrich
      Ingo Diedrich sagte:

      Hallo Ela
      ich finde auch, dass die Frage „wer bin ich“ zemlich schwierig ist und ich glaube, dass ich da nie eine abschließende Antwort finden werde. Aber ich beschäftige mich schon oft damit. Was macht mich bei all den Gesichtspunkten aus? Was ist heute wichtig und morgen vielleicht schon nicht mehr? Und eben die Frage: wer will ich sein? Welches Merkmal soll mich ausmachen?
      Die zweite Frage macht mir auch etwas Angst. Hier geht es um Existenzielles im Angesicht des Todes. Ich finde die Frage gut und wichtig.
      Was bedeutet es für dich „nicht zu gestalten“? Für mich ist die dritte Perspektive die Schwerste. Für dich scheint sie irgendwie entspannend zu sein.
      Liebe Grüße
      Ingo

      Antworten
      • Ela
        Ela sagte:

        Hallo Ingo

        „Wer bin ich?“ – Also ich frage mich nicht, was mich bei all den Gesichtspunkten ausmacht, sondern welche Gesichtspunkte soll ich in die Frage einbeziehen? Für mich ist diese Frage nicht zu beantworten, außer mit Ela oder Daniela Hubrich, je nach Fragesteller:in.
        „Wer will ich sein?“ – Ich könnte mir ja zum Ziel setzen, dass ich (wie) Jesus Christus oder Mahatma Gandhi sein will. Das ist aber wahrscheinlich in mehrerer HInsicht unsinnig denke ich. Ich kann aber bestimmte Aspekte ins Visier nehmen, z. B. im Beruf will ich statt Krankenschwester irgendwann Chefarzt sein. Da sehe ich durchaus Energie im Spiel:) In der Freizeit – ich will mich mehr ehrenamtlich engagieren z. B. … auch da ist ein Ziel, auf das ich hinarbeiten muss. Aber verändere ich meine Person („wer“), wenn ich dann Chefarzt bin? Ich bin dann doch immer noch dieselbe, oder?
        „Wer will ich gewesen sein?“ – das erschreckt mich schon wieder. Hast du das mit der Lebenslinie schon einmal gemacht? Da komme ich wieder zu den Aspekten. Der Pfarrer fragt vor der Beerdigung Erzählen Sie mir etwas über Ihren Vater oder Wie war Ihre Mutter. Und dann fallen einem einige Eigenschaften oder Ereignisse ein. Welche Dinge sollen anderen zuerst bei der Gelegenheit einfallen? Ist das die Frage?
        Tja – was bedeutet es, nicht zu gestalten? Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, so ungefähr. Ich habe ein bestimmtes Wesen und darauf muss ich mich verlassen. Ich muss meinen Tag gestalten und kleine Dinge .. aber sonst fällt mir erst einmal nichts ein.
        Entspannt, entspannend … ich weiß nicht. Es kann einmal ganz schnell gehen und deshalb sollte man/will ich so leben, dass es dann in Ordnung ist, dass ich nicht darüber nachdenken muss, was ich hätte anders oder überhaupt machen sollen. Das ist nicht direkt entspannend, aber ich kann nichts ändern, also kann ich mich entspannen …. Allerdings glaube ich, dass man diese „letzten Dinge“ tatsächlich erst ganz am Ende weiß – und dann ist es tatsächlich auch zu spät:)

        Antworten
  2. Andreas Ibrom
    Andreas Ibrom sagte:

    Lieber Ingo,

    danke für die dritte Perspektive. Sie ist sehr befreihend und ermutigend nicht zuletzt für das eigene Leben und Sein. Ein wichtiger Aspekt, der den anderen beiden Perspektiven so ganz fehlt.

    Liebe Grüße

    Andreas

    Antworten
  3. Ingo Diedrich
    Ingo Diedrich sagte:

    Lieber Andreas,
    ja, die dritte Perspektive ist was Besonderes. Sie sticht heraus. Auch für mich hat dieses loslassen etwas befreihendes. Dies aber nur, wenn das Vertrauen da ist. Ansonsten wäre es nur leichtsinnig.
    Aber wie erlebst du die beiden anderen Perspektiven. Verantwortung zu übernehmen oder ins existientelle zu gehen hat doch auch was, oder? Oder wie siehst du sie?
    Liebe Grüße
    Ingo

    Antworten
    • Andreas
      Andreas sagte:

      Lieber Ingo,

      ich wollte mich kurz halten, aber du hast es ja nicht anders gewollt 🙂

      Ganz interessant, welche Gedanken dir dazu kommen. Sie sind ganz anders als meine. Oder nicht?

      In Elas Kommentaren kommt es ja ganz gut zum Ausdruck: plötzlich sind wir verwirrt, wenn es um so eine vermeintlich selbstverständliche Frage wie „wer bist du?“ geht. Ernüchternd, nicht wahr? Sokrates lässt grüßen.

      Oh Gott, es fängt ja schon damit an, dass ich mich plötzlich mit Du anspreche. Das klingt schon falsch. Also besser „wer bin ich?“ ? Wer fragt? Macht die Frage Sinn? Besser „Wer sind wir?“?

      In dieser intellektuellen Verwirrung, finde ich einen Ausweg in der dritten Perspektive. Ich frage nicht, ich erlebe mich (einfach 🙂 ) . Das ist schon mal ein guter Anfang.

      Brauche ich dazu Vertrauen? – ja so wie der Schiffbrüchige im ewigen Meer zu seinem Rettungsring – wohl notgedrungen. Wohl auch ein bisschen Mut oder besser Hoffnung?

      Werde ich daraus klug? Ja, ich kann mich auf diese Weise, dem der fragt mitteilen. Dann wird dieser Teil von mir vielleicht klüger und findet vielleicht auch irgendwann die passenden Worte, ganz bestimmt sogar.

      OK das war es nicht, was du gefragt hast. Aber es ist schon Teil einer Antwort. Wenn ich mich nun an meinen (momentanen) eigenen Ansprüchen beginne zu messen, um mich aktiv und „in Verantwortung“ an meine „Eigenerziehung“ und „mal ganz theoretisch“ an meine Lebensgestaltung zu setzen – kommt mir das schon ein kleines bisschen absurd vor nach all den noch ungeklärten Fragen. Absurd, weil vermessen.

      Dennoch – wir haben die Evolution überlebt, ohne eine allgemein befriedigende Antwort auf die Frage „wer bin ich?“ gefunden zu haben (die Biologen lassen grüßen). Wahrscheinlich sogar deswegen, weil wir sie uns nicht gestellt, bzw. eine Antwort abgewartet haben, bevor wir uns um die Verbesserung unserer Lebensumstände vorsorglich gekümmert haben.

      Aber nun ist ja alles anders, nun haben wir ja die Freiheit, die Frage zu stellen und ein bisschen Zeit über eine Antwort nachzusinnen (wie man sieht). Und diese Extrazeit (Prince lässt grüßen) kommt durch Arbeit (Faust lässt Grüßen) und die Arbeit ist effektiver, je besser sie geplant und mit unseren guten Helfern abgestimmt wurde (der gerade moderne Mensch lässt grüßen).

      Wird es gut gewesen sein, sich für diese kulturelle Entwicklung der Menschheit eingesetzt zu haben, ja oder nein? Ja klar, warum nicht? Aber es macht sicher auch Sinn, diesen Plan auf dem Weg immer mal wieder zu überprüfen, nicht zuletzt, ob er sich noch richtig anfühlt, nicht wahr?

      Ja und der Tod ist auch so ein Problem.

      Mit diesen 15 Fragezeichen in den Gedanken zu deinen zwei Fragen möchte ich erstmal schließen.

      Viele Grüße an dich und alle, die, dieser Gedankenaustausch interessiert.
      Andreas

      Antworten
      • Ingo Diedrich
        Ingo Diedrich sagte:

        Lieber Andreas,.
        Viele große Themen und Fragen, die ich natürlich nicht klären kann.
        Nur zwei Aspekte-
        – Die Frage „Wer bin ich?“ halte ich für das Thema des Blogs für sekundär. Mir ging es um die Frage: wie orientiere ich mich? Zwei Arten pressen das Leben auf eine Zeitlinie und schauen es darauf aus unterschiedlichen Perspektiven an. Da ist die Beziehung zum gemachten Bild wichtig und nicht „wer“ das macht.
        Diese Arten der Orientierung werden allgemein dem Menschen zugeschrieben. Sie funktionieren, weil ich mich quasi außerhalb (exzentrsich) positionieren kann und mir ein Bild von mir mache. Die Beziehung zu diesem Bild bestimmt die Orientierung (eher instrumentell, eher existentiell).
        Die dritte Art haben wir mit den Tieren gemein. Wir lassen die Unwillkürlichkeit zu (zentrisch): den Atem, den nächsten Tanzschritt, das Einschlafen, den nächsten Gedanken …(https://ingo-diedrich.de/unwillkuerlichkeit-das-gute-leben/)
        Ich möchte mir diese Arten der Orientierung bewusst machen. Wozu sollte ich dafür vorher klären müssen „wer ich bin?“
        – Was ich bei der dritten Art mit Vertrauen meine, ist schwierig zu beantworten. Die Christen stellen sich einen Gott als Gegenüber vor und haben die schön Liedzeile: „Du kannst nicht tiefer fallen als nur in Gottes Hand“. Sie nennen dieses Vertrauen Glauben. Tiere kommen ohne diesen Gott aus und leben den Inhalt der Liedzeile.
        Uns Menschen fällt diese Art der Orientierung oft schwer. Wir wollen Vertrauen „haben“ und suchen dafür ein Gegenüber oder Sicherheiten oder Kontrollmöglichkeiten.
        Wilhelm Reich beschrieb die Unwillkürlichkeit genau als den Punkt, in dem all das nicht gegeben ist: im Orgasmus, in der Atemwende (zwischen ein-und ausatmen) usw.
        Mit Vertrauen meine ich so eine Art Gewissheit zu „sein“, auch wenn ich die Gewissheiten loslasse.

        Soweit erst einmal
        Liebe Grüße
        Ingo

        Antworten
  4. Karoline Krempel
    Karoline Krempel sagte:

    Die Frage danach, wer ich wohl sein könnte, habe ich mir vor Jahrzehnten mit einem Wort von Marina Zwetajewa beantwortet: „Ich bin viele.“ – Für mein Leben reicht das. Noch dazu stimmt es. Ich behaupte nicht, daß mein Leben dadurch einfacher wäre als andere Leben.
    Wer will ich aber gewesen sein? Dichterin natürlich. Das, was ich bin. Eine von den Vielen. Aber das reicht mir nicht ganz. Und es scheint mir so abgesondert. Da sind ja noch viel mehr. Deshalb habe ich einen russischen Film zu Rate gezogen: „Behaltet mich so in Erinnerung“ – ist schon lange her, und ich habe die Einzelheiten längst vergessen. Eines aber nicht, das Wesentliche (das man sonst immer gern vergißt): Die alte Dame lädt zum Geburtstag ein, ein runder, der sechzigste oder siebzigste, nicht später. Alles ist feierlich, wie es so ist, die Kinder sind da, die Enkelkinder, Freunde, falls noch lebendig. Und zu geschlagener Stunde verabschiedet die Dame die Runde und bittet darum, nicht mehr aufgesucht zu werden, nicht mehr angerufen, mit keinem Brief mehr bedacht. Sie bittet: „Behaltet mich so in Erinnerung“. Sie entscheidet, daß sie gewesen sein will, was die die letzte Erinnerung an Sie von ihr hergibt – bei manchen noch, was im Laufe der Zeit an inneren Bildern sich angehäuft hat. Auch verliefen ja die letzten gemeinsamen Stunden ohne Ankündigung, ohne Wissen darüber, daß es die letzten gemeinsamen Stunden sein würden. Und nichts, das jetzt noch hinzugefügt werden könnte.
    Das hat mich wirklich beeindruckt. Das scheint mir ehrlich unwillkürlich. Da hat die alte Dame einfach ihrem Impuls gehorcht und ihre Vision in die Tat umgesetzt. Am Ende wurde daraus eine große Selbstbestimmtheit. Und das war es vielleicht, was sie gewesen sein wollte. Aber das kann ich natürlich nicht wissen.
    Ich orientiere mich also, entnehme ich meinen drei Worten hier, an etwas Äußerem, an etwas, das mir im Leben und Denken Bewegung schenkt: ein Wort, ein Bild, ein Klang, ein Blick; an etwas, das mir widerfährt, widerspricht, mich widerspiegelt, mir widerstrebt und so. Und ich würde bestimmt gern eine gewesen sein, von der nur wenige Menschen und Tiere meinen werden, sie wüßten, wer ich gewesen sei.
    Aber jetzt, lieber Ingo, muß ich eben noch sagen, wieso ich überhaupt hier reingeschneit bin: Ich bin bei „Sternstunde Philosophie“ auf Isolde Charim gestoßen und habe mich von dem Gespräch über unsere narzisstische Gesellschaft hinreißen lassen. Da habe ich an Dich gedacht.

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