Entstehung der Lebenswissenschaft Biologie
Lebenswissenschaft – zweite Vorlesung
In der zweiten Vorlesung aus der Reihe „Leben – Geschichte und Metaphysik eines schillernden Begriffs“[1] spricht Petra Gehring über die Entstehung des wissenschaftlichen Begriffs des Lebens und damit über den Beginn der Biologie.
Das Wort Leben und seine antiken Vorläufer (Bios, Zoe, Vita) sind demzufolge sehr alt. Die Grimms bringen das deutsche Wort mit „Lieb“ also dem Leib in Verbindung. Die Vorstellung, dass das Leben auch „materiell gedacht“ werden kann, kommt aber erst Anfang des 19. Jh. auf.
Zur Veranschaulichung dieses Prozesses kontrastiert Petra Gehring u.a. die Naturforschung jenseits und diesseits dieser „Schwelle“ um 1800.
Leben – ein Merkmal unter vielen
Im 18. Jh. gibt es eine „elaborierte Wissenschaftslandschaft“[2]. Das Wissenschaftsideal war von der Vorstellung des Ordnens geprägt. Dies galt z.B. für die Medizin, in der Krankheiten und Behandlungsmethoden genau erfasst und beschrieben wurden. Ordnung war wichtig, um die Krankheit zu erkennen und die dazu passende Behandlung anzuwenden. Ursachenforschung war sekundär.
Es gab zahlreiche Versuche, eine rationale Ordnung zu schaffen, in der die Natur vollständig erfasst ist und bestimmt werden kann. Ein wichtiger Naturkundler war Carl von Linné (1707-1778), der anhand der Gestalt der Naturphänomene ein „Beschreibungssystem“ und eine entsprechende Klassifikation entwickelte. Die sehr genaue Erfassung der äußeren Erscheinung war der zentrale Aspekt der Empirie.
Hinzu kam eine „logische Operation“, in der die Gestalt in die „widerspruchsfreie, lückenlose und wohlgeformte Klassifikationsordnung“ eingebettet wurde. So entsteht eine ausgefeilte Taxonomie mit genau abgegrenzten Merkmalen. Ist das Tier haarig oder geschuppt, eierlegend oder lebendgebärend, wie groß ist die Anzahl der Staubgefäße bei den Pflanzen usw.?
„Es ging insgesamt um das allmähliche Auffüllen des großen Raumes der Natur mit Namen und Merkmalen.“ So dass alles gemäß der an der Oberfläche gut sichtbaren Identitäten und Unterschieden „gruppiert, hierarchisiert und verzeichnet ist“.
Ziel ist eine statische allumfassende Übersicht.
Lebendigkeit ist ein Merkmal unter vielen. Es gibt die Eigenschaft ‚lebendig sein‘, aber nicht das Leben. Leben ist ein Merkmal organischer Körper und nicht Bedingung ihres überhaupt Existierens. Darum gibt es zu dieser Zeit auch keine Biologie.
Nicht das Leben gibt es, sondern lebendige Wesen.
Leben – ein Tiefenphänomen
Im 19. Jh. ändern sich diese Vorstellungen. Lamarck z.B. löst sich etwas von dem statischen Ordnungsprinzip und macht sich z.B. Gedanken darüber, ob evtl. die Giraffe aus der Antilope entstanden sei.
Wichtiger ist aber Georg Cuvier (1769-1832). Auch er betrachtet die sichtbaren Merkmale, aber er klassifiziert nicht einfach nach diesen Merkmalen, sondern fragt nach den funktionalen Gründen, warum ein Organismus so und nicht anders aufgebaut ist. Das Merkmal wird interpretiert auf eine tieferliegende Funktion hin: was leistet es für den Organismus.
Fische und Säugetiere unterscheiden sich anhand der äußeren Erscheinung radikal. Auch die Lunge (Säugetiere) und Kiemen (Fische) sehen sich sehr unähnlich. Aber, sie erfüllen beide die Funktion der Atmung. Fische haben Kiemen um zu atmen.
Aufgrund äußerer Beobachtungen schließt er auf verborgene „abstrakte Funktionseinheiten“.
Das Verhältnis vom „Sichtbaren und Struktur im Exemplar“ kehrt sich um. Ich kann dem Sichtbaren nicht unbedingt trauen, sondern muss so lange suchen, bis ich die Funktion erschöpfend geklärt habe.
Aber auch die Funktionen wie Atmung, Verdauung, Ausdünstungen usw. stehe nicht für sich, sondern verweisen auf den gemeinsamen und allgemeinen Existenzgrund. Es sind „Lebensverrichtungen“, die im Dienste des Lebens stehen.
„Das Leben braucht diese Verrichtungen, sonst kann ein Organismus nicht leben.“
Das ist eine neue Logik mit einer allgemeinen Vorstellung von Leben:
- Nicht das nebeneinander der Merkmale steht im Zentrum, sondern die Hierarchie der Funktionen. Neben Funktionen 1. Ordnung wie z.B. die der Blutgefäße (Funktion: Lunge mit Blut versorgen) gibt es „wenige komplexe Grundfunktionen 2. Ordnung“ wie die Atmung und von dieser Erfüllung hängt die Lebensfunktion ab.
- Die Funktionssysteme hängen äußerst eng zusammen. Es sind wechselseitige Abhängigkeitsverhältnisse. Die Begriffe Organ (Werkzeug) und Organismus deuten das an. Der Organismus ist ein dynamischer Verband und „dieser Verband dient dem Überleben“. Dieser Verband schafft ein Innen, das sich von einem Außen abgrenzt. Es gibt eine ständige Bewegung von Außen nach Innen und umgekehrt. Der Austausch über die Grenzen hinweg wird durch die Funktionen bestimmt. Eine Bewegtheit kennzeichnet den Organismus.
- Er setzt Teile, die im Körper weit auseinander liegen in Beziehung. Die Zähne und der Magen hängen eng zusammen (aufgrund der Funktion Verdauung). Eine damals ungewöhnliche Perspektive.
- Organismen sind in ihrer Unterschiedlichkeit Lösungen des Problems des Überlebens. Lösungen, indem die funktionalen Elemente des Organismus durch ihre Leistung das Leben etablieren. Dem zugrunde wird eine verborgene Funktion innerhalb aller Organismen angenommen: das Leben.
Definition Leben (Cuvier): „Eine allgemeine und allen Teilen sich mitteilende Bewegung.“
Mit dem Auftreten dieses neuen Lebensbegriffes entsteht die neue Wissenschaftsdisziplin Biologie.
Lebenswissenschaft – Anmerkungen
Linnés Herangehensweise des Ordnens dient in dieser Vorlesung primär als Hintergrund, um das Neue in Cuviers Perspektive klarer heraus zu arbeiten. Zur Bedeutung des Ordnens möchte ich hier auf die Arbeiten von Zygmunt Bauman verweisen, dem es gelingt mit den Begriffen Ordnung, Chaos und Ambivalenz eine Perspektive zu charakterisieren, die damals ihren Ursprung hatte und bis heute relevant ist.[3]
Die Aussagen zu Cuvier haben mich sehr beeindruckt. Eine ausführliche Beschreibung Cuviers Position findet sich im Buch „Die Organisation des Lebendigen“[4] Mit Blick auf Wilhelm Reich ist mir besonders wichtig, dass entsprechend dieser Vorlesung die Entstehung des wissenschaftlichen Begriffs Leben mit dem funktionalistischen Denken (wie bei Reich) zusammen fällt.
Sehr Vieles erinnerte mich spontan an Reich. Dieses Denken in oberflächlichen Unterschieden mit zugrundeliegenden Identitäten. Die Vorstellung von einer Funktion als gemeinsamen Bezugspunkt. Die Hierarchie in den Funktionen. Die Suche nach den verborgenen zugrundeliegenden Funktionen. Aber auch in Bezug auf das Leben: die Wichtigkeit des Innen und Außens mit einer entsprechenden Bewegung, die Bedeutung der Bewegung, in der sich etwas ausdrückt und somit Sinn gibt. Usw.
Mir ist nicht bekannt, dass sich Reich auf Cuvier bezieht. Er hat ihn aber wahrscheinlich über das Buch „Geschichte des Materialismus“[5] kennengelernt. Dort wird er allerdings nicht als Biologe eingeführt, sondern als wichtiger Evolutionsforscher kritisiert.
Es gibt aber auch einige Unterschiede zwischen Cuviers und Reichs Perspektive, die ich hier nur beispielhaft andeute:
- Für Reich ist die funktionalistische Perspektive nicht ein Ordnungsprinzip für die Natur, sondern selbst Ausdruck der Natur. Er sieht keinen prinzipiellen Bruch zwischen Verdauung, Atmung und Denken bzw. Forschen. Alles lässt sich auf die Lebensfunktion zurückführen und nur indem dies möglich ist, ist die Perspektive auch richtig.[6]
- Die Beziehung zwischen den Funktionsebenen ist bei Reich nicht durch ein ‚um zu‘ bzw. einem leiten und regieren bestimmt.[7] Ein Organismus atmet demzufolge nicht um sich am leben zu erhalten. Vielmehr ist Atmung eine spezifische Variation der zugrundeliegenden Pulsation. [8]
- Während Cuvier in dem Begriff des Lebens noch eine „dunkle Idee“ sieht, geht Reich davon aus, die Lebensfunktion definieren zu können.[9]
- Auch für Reich ist die Lebensfunktion von zentraler Bedeutung. Aber auch sie ist eine Variation einer zugrunde liegenden Funktion. Das Leben ist funktionell eingebettet in einem Gesamtzusammenhang
[1] TU-Darmstadt-Openlearnware. Petra Gehring: Leben – Geschichte und Metaphysik eines schillernden Begriffs. Vorlesung Wintersemester 2009/2010 (der Link funktioniert leider nicht mehr (1.8.2014))
[2] Alle nicht anders gekennzeichneten Zitate stammen von Petra Gehring
[3]Bauman, Zygmunt: Biologie und das Projekt der Moderne. In: Mittelweg 36, 4/93, 1993. S.3-16; Bauman, Zygmunt: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1994; Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/M 1996
[4] Cheung, Tobias: Die Organisation des Lebendigen.Zur Entstehung des biologischen Organismusbegriffs bei Cuvier, Leibniz und Kant.Frankfurt/M 2000. S. 17-38; 82ff
[5] Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn. 1873
[6] Vgl. Reich, W.: Die kosmische Überlagerung. Kap.: The rooting of reason in nature. Frankfurt/M 1997; Ingo Diedrich: Naturnah forschen. Wilhelm Reichs Methode des lebendigen Erkennens, Berlin 2000 S.80 ff
[7] Vgl. Cheung S.22
[8] Reich, Wilhelm: Orgonometric Equations: 1. General Form, in: Orgone Energy Bulletin Bd.2 Nr.4, New York 1950, S.178; vgl auch Reich Auseinandersetzung mit den Vitalisten vgl. Diedrich: Naturnah forschen. S. 16ff
[9] Vgl. z.B. Reich, W.: Dialektischer Materialismus in der Lebensforschng, S.141; R., W.: Orgonomic Functionalism, Part II, Bd.2, Nr.3, S.108/109
Die Bilder von Linne und Cuvier wurden Wikipedia entnommen
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