Warum lebendige Wissenschaft?
Wir leben in einer sehr privilegierten Situation.
Ich kann jederzeit gute Musik hören, im Winter muss ich nicht frieren, bei Verletzungen stehen chirurgische Werkzeuge zur Verfügung und mit dem Auto kann ich zum nächsten Badesee fahren.
All das basiert auch auf einer Wissenschaft, die vor ca. 300 Jahren ihren Siegeszug begann und sich am Leitbild der damaligen Physik orientiert. Im Kern wird versucht, die Erscheinungen der Welt in möglichst lineare kausale Abhängigkeiten zu übersetzen.
Diese Art sich mit der Welt auseinander zu setzen, hat zu einer Explosion von Kreativität geführt. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde Wissen gesammelt, wie in tausenden Jahren vorher nicht. Der Nutzen, den wir aus dieser Wissenschaft ziehen, ist kaum zu überschätzen.
Eine Verlockung wird dabei meist übersehen: diese Art der Weltaneignung schafft Ruhe. Sobald die Uneindeutigkeiten in Kausalketten übersetzt sind, können beherrschbare Faktoren definiert werde. Deutlich wird dies an Maschinen. Sie haben teilweise ungeheure Kräfte und können doch von uns reguliert werden. Oder der Computer: letztlich kann alles in 1 und 0 übersetzt werden.
Alles scheint geordnet werden zu können. Ordnung schafft Übersicht, Sicherheit und somit Ruhe.
Die Ordnung des unwägbaren Restes scheint eine Frage der Zeit. Wie Zygmunt Bauman(1) zeigte, ist dies ein Grundirrtum der Moderne.
Grenzen
Das herrschende Wissenschaftsverständnis bedarf dringend einer Ergänzung. Wir benötigen eine Perspektive des Zugangs und nicht der Ordnung.
Zwei Gründe:
- Intern stößt dies Denken immer deutlicher an seine Grenzen. Linearität wird durch Vernetzung ersetzt und die Kausalität wird immer häufiger in Frage gestellt. Die so entstehenden Modelle entsprechen weder den eigenen Idealen, noch sind sie gut handhabbar.
- Zentrale Fragen unseres Lebens wie z.B. Kontakt, Gesundheit, Zuversicht, Intensität und Liebe können so nicht sinnvoll bearbeitet werden; Maschinen haben das nicht.
Im Unterschied zu den Maschinen sind wir lebendige Wesen und Disziplinen wie Biologie und Lebenswissenschaften müssen sich endlich als solche ernst nehmen. Das Leben als kybernetische Maschine zu betrachten führt allenfalls zum Verständnis einer „Biomaschine“(2), aber nicht zum Verständnis lebendiger Prozesse.
Lebensforschung
Um dem „Forschungsgegenstand“ Leben gerecht zu werden, muss es in seinen Eigenheiten auch die Forschung selbst bestimmen. Das Leben ist weder linear noch kausal. Leben pulsiert, ist immer in Bewegung, lässt keine „Nullpunkte“ zu und tritt als Lebewesen in Kontakt.
Lebensforschung berührt und schafft weder Sicherheit noch Ruhe. Mit ihr bekommen wir das Leben nicht in den Griff. Die Forschungsperson ist kein auszuschließendes Artefakt, sondern das wichtigste Werkzeug. Nur ein Lebewesen kann einen lebendigen Ausdruck tatsächlich wahrnehmen. Alles andere ist nur ein Abklatsch des Ausdrucks.
Lebensforschung ist kein einfacher Weg, sondern erfordert insbesondere vom Wissenschaftspersonal ganz neue Kompetenzen: (Selbst-)Wahrnehmungsfähigkeit, Hingabe an den Gegenstand usw.
Warum lebendige Wissenschaft?
Weil wir es uns nicht mehr leisten können, dem Leben aus dem Weg zu gehen oder es der Esoterik zu überlassen.
Technik und ein mechanistisches Weltbild haben durchaus einen wichtigen Platz, aber bei zentralen Fragen unseres Lebens führen sie in eine kaum zu übersehende Sackgasse.
Wir benötigen den kreativen Schub, zu dem Wissenschaft in der Lage ist. Wissenschaft kann viel mehr sein.
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Literatur zum Thema „Lebendige Wissenschaft“ z.B.:
- Wilhelm Reich: Äther, Gott und Teufel. Frankfurt/M. 1983
- Ingo Diedrich: Naturnah forschen. Berlin. 2000
(1) Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/M 1996
(2) Robert F. Schmidt: Biomaschine Mensch. München 1979
Lieber Ingo,
danke für diesen tollen Beitrag. Weitgehend und inspirierend wie immer!
Dazu eine Frage: Du stellst die beiden Wissenschaftszugänge als Polaritäten dar. Das verstehe ich. Bildet sich aber in diesem Spannungsfeld nicht gerade in einem langsamen Prozess so etwas wie eine Synthese heraus? Beispiele sehe ich viele: von den String-Theorien die ich – zumindest oberflächlich betrachtet – als inspirierend ganzheitlich sehe, bis hin zur Intuitionsforschung, die den Menschen zunehmend als Wesen zu erkennen beginnt (um nur zwei Aspekte zu nennen). Ist die Summe – das alles zusammen – nicht schon die Lebendigkeitsforschung, die Wissenschaft des Lebens? Und noch weiter: ist nicht die Esoterik als Gegenpol zur Exoterik ein sehr berechtigter Pol im neuen Spiel der Menschen? „Ein Esoteriker geht mit dem Leben und der Welt, anstatt sie zu bekämpfen.“ (Read more: http://www.lebeblog.de/geist-und-selbst/birkenbihl-pragmatische-esoterik-vs-exoterik/#ixzz2ijLMfavs) – daher ist Esoterik doch auch eine Säule Deiner Lebenswissenschaft, oder?
herzliche Grüße,
Peter
Lieber Heinz Peter
Du sprichst sehr spannende, aber für mich auch schwierige Aspekte an.
Die Pole als solche sind für mich nicht das Problem. Beides ist wichtig. Für mich ist eher die Frage: Was ist ein „Standbein“? Oder anders ausgedrückt: Wie sieht eine Integration, Synthese tatsächlich aus?
Ich kriege das hier im Kommentarfeld nicht korrekt auf die Reihe.
Trotzdem ein Versuch.
zwei Beispiele:
Kennst du den Film „What the Bleeb we (k)now?“ Ein aufwendiger Film über eine esoterische Perspektive auf die Welt. Es gibt keine objektive Wahrnehmung der Realität. Alles was wir über sie sagen ist eine Konstruktion unseres Ichs. Dies wendet sich gegen die Größenphantasien der Exoterik, der Naturwissenschaft usw. Verbundenheit und Innenschau führt in diesem radikalen Konstruktivismus aber eben zu einer neuen Trennung zur Welt. Wenn unser ganzes Wissen nur eine Vorgaukelung des Ichs ist, dann kann ich mir letztlich wiederum auch alles vorgaukeln. Ich habe die Macht über meine Welt.
Intuition ist seit ca. 100 Jahren durchaus Teil der Naturwissenschaft (vgl. Daston, Gallison: Objektivität). So wird Wert darauf gelegt, dass der Mensch aufgrund seiner Intuition u. U. besser in der Lage ist, Muster in Ergebnissen zu entdecken als jeder Computer. Der Forscher scheint irgendeinen direkten Zugang zu haben. Auffällig ist aber 1. dass es eben nicht um direkte Naturbeobachtungen geht, sondern um technisch erlangte Daten und 2. dass die Intuitionen als Black Box gedacht werden. Sie scheinen auf geheimnsivolle Weise einfach da zu sein. Keine Anbindung z.B. an die Emotionen.
In beiden Beispielen geht es um den Weltbezug. Und beide haben etwas Verlockendes. Im ersten Beispiel wird die Welt und das Ich einfach zusammen gedacht. Im zweiten Beispiel wird im Bezug auf die objektive Welt so etwas wie eine kleine Hintertür des Zugangs angeboten.
Aber in beiden Beispielen wird eben auch explizit eine Trennung eingebaut. Im ersten Beispiel kommt eine reale physische Welt gar nicht mehr vor. Sie ist abgespalten. Im zweiten Beispiel schützt die technische Wahrnehmung der Realität auch die Intuition vor den Kontakt mit der Welt. Und nach innen trennt das Geheimnis der Grundlage der Intuition den realen Forscher vor seinen eigenen Anteil.
Es gibt immer eine Abspaltung.
Ich fürchte, dass ich mich unklar ausgedrückt habe. Vielleicht weil es mir selber noch nicht ganz klar ist.
Es gibt eine reale Welt, die uns als Objekt gegenübersteht. In diesem Sinne sind wir getrennt. Gleichzeitig sind wir aber eben selber Welt, identisch mit allem.
Ich glaube, dass ein Zugang zur Welt, der uns weiter bringt, diese Spannung aufgreifen und aushalten muss.
Nicht entweder oder, nicht nebeneinander (in der Woche als Wissenschaftler und am Sonntag als Gläubiger, für einen Bereich Eso- und für einen anderen Exoterik), nicht summiert (wer abgespaltenes summiert, summiert auch Abspaltung) und auch nicht gegeneinander.
Das wäre für mich ein Kennzeichen einer gelungenen Synthese. Es geht um die beziehung der Pole zueinander bzw. die Integration in einer Sichtweise. Ich kenne da nicht so viele. Der Orgonomische Funktionalismus nach Reich ist da eine, die ich gern zur Diskussion stellen würde. Andere würde ich gern kennen lernen.
Vielen Dank für deinen Kommentar!
liebe Grüße
Ingo