Kontrolltheorie (Travis Hirschi)
Das KFN hat festgestellt, dass zwischen religiöser Einbindung und Gewalt ein positiver Zusammenhang bestehen kann.(1) Criminologia, der Kriminologenblog der Uni Hamburg, hält das für eine „kleinere Sensation“,(2) weil es Grundaussagen der Kontrolltheorie widerspricht.
Was ist die Kontrolltheorie?
Die Kriminologie beschäftigt sich mit Abweichung insbesondere von rechtlichen Normen. Eine der bekanntesten Theorien dazu ist die „Soziale Kontrolltheorie“ nach Travis Hirschi. Kontrolltheoretiker fragen nicht: was führt zur Abweichung, sondern was verhindert sie?
Die Antwort ist einfach: Die Anbindung an gegebene gesellschaftliche Strukturen führt zu einer Ausrichtung an deren Vorgaben. Das folgende Bild bringt diese Perspektive auf den Punkt:
Das „Schaf auf der ungezäunten Wiese braucht einen Pflock mit einem Strick um den Hals, an dem es angepflockt ist, damit es seinen Aktionskreis nicht verlässt.“
„So wie das Schaf an der Leine schlafen, essen, brüllen, die Sonne genießen, ja sogar versuchen kann, mit gekreuzten Vorderbeinen zu laufen, so müssen die jungen Leute lernen, dass das Leben gebunden an Konformität vielseitig, erfreulich, belohnend und interessant, ausfüllend sein kann.“(3)
Dies ist das in der Kontrolltheorie vorherrschende Menschenbild. Ein Pflock ist z.B. die Familie und die Religion. Für Hirschi bauen diese Elemente aufeinander auf und leiten sich letztlich aus der Natur ab. Demzufolge hält er sich auch nicht mit Gedanken über Leitkulturen auf, sondern geht gleich von einem Konsens innerhalb der Gesellschaft aus.
Stabile Abweichung
Die Integration des „asozialen Individuums“ in diese Gesellschaft muss bis ungefähr zum 7. Lebensjahr gelingen. Anschließend sei der Charakter stabil und die Person würde sich immer abweichend bzw. kriminell verhalten.
„Wenn jammernde und drängelnde Kinder die Erwachsenen werden, die durch Raub und Vergewaltigung auffallen, dann muss Jammern und Drängeln das theoretische Äquivalent zum Raub und Vergewaltigung sein.“(4)
Untersuchungen zur Kriminalitätskarriere sind aus dieser Perspektive genau wie eine differenzierte Betrachtung der sozialen Welten und Interaktionen überflüssig.
Gewalt und Religion
Das KFN stellt nun u.a. fest, dass „Migranten ohne Konfessionszugehörigkeit in jeder Hinsicht am besten integriert“ seien. Sie differenzieren verschiedene Formen von Religiosität und schreiben noch ganz im Sinne von Hirschi, dass: „Je stärker Jugendliche in ihrem Glauben verankert sind, umso seltener begehen sie einen Ladendiebstahl oder haben Alkoholprobleme.“
Aber: „Für junge Muslime geht […] die zunehmende Bindung an ihre Religion mit einem Anstieg der Gewalt einher.“(1, Zusammenfassung)
So eine differenzierte Diskussion über den Bezug der Religion zum abweichenden Verhalten ist für eine wissenschaftliche Institution selbstverständlich. Umso vielsagender ist es, wenn diese Aussagen als „kleinere Sensation“ gewertet werden, weil sie nun einmal Grundannahmen der Kontrolltheorie widersprechen.
Die Kontrolltheorie – ein mitgeschleppter Klassiker
Die Kontrolltheorie ist über vierzig Jahre alt und wurde vor ca. zwanzig Jahren von Hirschi aktualisiert und verschärft. Noch in den 90er Jahren war dieser Ansatz unter deutschen Kriminologen die bedeutendste Theorie!!(5)
Auch heute noch gilt er als „Klassiker“, der nicht mehr gelesen und diskutiert, aber immer noch hoch geschätzt und mitgeschleppt wird.
Eine ausführliche Beschreibung und Diskussion der Sozialen Kontrolltheorie nach Travis Hirschi findet sich in dem Text „Aus-einander-setzung mit Gewalt“ in Kapitel 3.3.
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Ingo Diedrich: Aus-einander-setzung mit Gewalt, 2003, Kap 3.3: Die Kontrolltheorie (Hirschi/ Gottfredson)
Ingo Diedrich: Die Kontrolltheorie nach Travis Hirschi – eine Diskussionsvorlage, 2013
(1) Baier, D., Pfeiffer, C. & Rabold, S.: Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum : Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Hannover 2010; Zusammenfassung
(2) Christian Wickert: KFN legt zweiten Forschungsbericht zur Jugengewalt, Integration und Religiosität vor, 16.6.2010 in Criminologia
(3) Friday, Paul C./ Kirchhoff, Gerd Ferdinand: Social Control-Theory. In: Schwind, Hans – Dieter/ Kube, Edwin/ Kühne, Hans-Heiner (Hrsg.): Festschrift für Hans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag am 14. November 1998, Berlin 1998, S.77-104, S.83
(4) Hirschi, Travis/ Gottfredson, Michael R.: Substantive Positivism and the idea of crime. In: Hirschi, Travis/Gottfredson, Michael R. The generality of deviance. New Brunswick, New Jersey 1994, S.253- 270. „If children who offend by whining and pushing and shoving are the adults who offend by robbing and raping, it must be that whining and pushing and shoving are the theoretical equivalents of robbery and rape.“
(5) Niggli, Marcel Alexander: Kriminologische Theorien und ihre Bedeutung für Kriminologen in Deutschland, der Schweiz und den USA – Ein empirischer Vergleich. In: Monatszeitschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 5/1992, S.261-277. S.267
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