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Unwillkürlichkeit – das gute Leben

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Ja, der Begriff ‚Unwillkürlichkeit‘ ist sperrig und der Text lang. Aber das Thema ist mir wichtig und darum bitte ich dich, ihn zu teilen. Danke!

Unwillkürlichkeit ist allgegenwärtig und elementar. Wir kennen sie beim Herzschlag, bei jedem Atemzug und in unsere Verdauung. Auch unsere Gedanken gehen oft ihre unwillkürlichen Wege und die Träume fragen nicht, ob irgendeine reflektierende Instanz ihr OK gibt. All dies geschieht in einer großen Selbstverständlichkeit.

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Unwillkürlichkeit-PDF

Auch die besonderen Momente des Lebens kommen oft unwillkürlich daher: wenn wir im Tanz eine besondere Verbindung spüren, wenn wir uns verlieben oder in einer peinlichen Situation rot anlaufen. All diese Momente entziehen sich einer Kontrolle.
Kontrolliert verlieben geht nicht.

Mit dieser Erfahrung sind wir nicht allein: die gesamte lebendige Natur drückt sich unwillkürlich aus. Dies ist ein nicht zu überschätzender Aspekt: In der Unwillkürlichkeit sind wir Menschen mit allen Lebewesen identisch.

1.   Individuelle Aufspaltung: Zentrum – Rand

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Es wäre doch wunderschön, diese Art Leben auszubauen. Die eigene Lebendigkeit anzunehmen, anstatt ständig zu distanzieren, reflektieren und kontrollieren.  Sich identisch mit allem Leben fühlen und sich als ausdrucksstarkes Lebewesen zeigen. Das Leben wäre hingebungsvoll und offen.

Diese Verlockung ruft bei mir aber zahlreiche „Abers“ hervor: Mit der Kontrolle würde ich auch meine Sicherheit verlieren. Wer weiß, wie ich mich dann zeigen würde und ob das von der Umgebung akzeptiert würde. Würde ich nicht von einer peinlichen Situation in die nächste tapsen? Und überhaupt: ist das nicht einfach der alte Wunsch eines überforderten Erwachsenen nach der guten alten Kindheit?

Sehnsucht

Und doch halte ich an der Verheißung der Unwillkürlichkeit fest. Fern ab meiner Normalität wird sie zu einem außergewöhnlichen Erlebnis unter besonderen Bedingungen. Hier kann ich Fantasien von Hingabe, Fallen- und Loslassen kultivieren.

Die Unwillkürlichkeit verliert die Selbstverständlichkeit und wird zu einem Sehnsuchtsort am Randes des Lebens. Sehnsucht ist eine Strategie, mit diesem Widerspruch aus Verheißung und Angst umzugehen.

Normalität – Ordnen

Unwillkürlichkeit ist etwas für außergewöhnliche Situationen oder für spielende Kinder. Sie gilt als Überbleibsel des Tierischen von dem sich der aufgeklärte Erwachsene emanzipieren sollte. Wir sollen unsere Fähigkeit zur Reflexion nutzen, der Unwillkürlichkeit einen menschlichen Stempel aufzudrücken. Verantwortungsvolle Erwachsene vertrauen sich nicht der Unwillkürlichkeit an, sondern ordnen sie. Sie präsentieren im Zentrum des Lebens ihre Art, die Unwillkürlichkeit unter Kontrolle zu kriegen.

Unwillkürlichkeit-Garten-Ordnen

Zygmunt Bauman beschreibt diese Haltung in dem Bild des Gärtners.[1] Der Gärtner ringt der Natur eine eigene Ordnung ab. Es gibt unzählige Arten von Gärten. Aber alle richten sich gegen die Unwillkürlichkeit. Das macht einen gestalteten Garten aus. Die Unwillkürlichkeit wird als Chaos erlebt, das mit Brennnesseln, Giersch, Quecke & Co in Kürze die geschaffene Ordnung zerstören kann. Die Angst vor diesem Kontrollverlust ist die Triebfeder des modernen Menschen, die Welt immer weiter in Ordnung zu bringen.

Aufspaltung

Die selbstverständliche Unwillkürlichkeit des Lebens spalten wir moderne Erwachsene also auf: Auf der einen Seite geben wir ihr eine Ordnung mit der wir sie bzw. uns kontrollieren und präsentieren können. Außerhalb dieser Normalität konstruieren wir gleichzeitig Sehnsuchtsorte. In diesen geschützten Räumen scheinen wir uns endlich der Unwillkürlichkeit hingeben zu können.

Beispiel Sex:

Unwillkürlichkeit-Schnecken-Sex

Sex ist für uns Tiere ein selbstverständlicher Teil des Lebens. Den meisten modernen Menschen fällt es aber sehr schwer, die Unwillkürlichkeit insbesondere im Orgasmus einfach zuzulassen.  Wir leben also einen normalen geordneten Sex und fantasieren uns Sehnsuchtsorte. Losgelöst von der Ordnung ist hier auf einmal alle Hingabe möglich.[2]

Unzählige visuelle Vorlagen, Seminare und Ratgeber greifen genau diese Aufspaltung auf. Sie suggerieren, man könne das Aufgespaltene einfach gleichzeitig haben: die kontrollierte Unwillkürlichkeit.

2.   Gesellschaftliche Aufspaltung: Zentrum – Rand

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Unsere Gesellschaft kann sich Unwillkürlichkeit nicht leisten. Dafür sind die Probleme einfach viel zu komplex: Klimawandel, Migration, soziale Spannungen usw. lassen sich nicht ‚aus dem Bauch heraus‘ klären.

Wir müssen unsere menschliche Ordnung abseits der Natur immer weiter entwickeln. So mühsam das auch ist. Nur so fallen wir nicht ins Chaos zurück und werden unserem Menschsein gerecht.

Dies ist zumindest seit 300 Jahren der Kernglaubenssatz unserer Gesellschaft.

Wir haben uns mühsam von der Abhängigkeit von Gott oder der Natur emanzipiert. Und gerade die aktuelle Situation zeigt, dass diese Ordnung fortlaufend bedroht ist: unberechenbare Akteure in der Weltpolitik, Rechtspopulisten im eigenen Land und barbarische Gräueltaten unweit von Europa.

Wie der Gärtner seine Gestaltung gegen das Unkraut verteidigt, so muss die Gesellschaft gegen den Rückfall ins naturnahe Chaos kämpfen. Die Unwillkürlichkeit spielt dabei den Gegnern in die Hände. Sie stärkt die Irrationalität, führt in alte Abhängigkeiten und kann die komplexen Probleme nicht lösen.

Dieses Selbstbild der modernen Gesellschaft scheint sehr plausibel. Aber auch sie hält Orte für die Unwillkürlichkeit bereit, die oft gebannt beschaut werden. Einige Beispiele:

Mystifizierte Unwillkürlichkeit

Es ist auch heute akzeptiert, als kritischer Wissenschaftler zu arbeiten und am Sonntag zum Schöpfergott zu beten. Diese zusätzliche Orientierung erlaubt es dem Individualisten, sich eingebunden zu fühlen. Die unwillkürliche Erfahrung vom Leben getragen zu werden, wird hier mystifiziert zum Glauben „nicht tiefer als in Gottes Hand fallen zu können“.

Überhöhte Unwillkürlichkeit

Unwillkürlichkeit ist eine Selbstverständlichkeit des Lebens. Um sie aus der eigenen Normalität herauszuhalten, kann man sie zu einem hohen Ziel verklären. Sie wird zu etwas, das nur wenige Menschen erreichen. Die banale Unwillkürlichkeit wird so z.B. zu einer hohen „Absichtslosigkeit“. Nur wenige buddhistische Mönche beherrschen diese Kunst des Bogenschießens.

Bestaunte Unwillkürlichkeit

In der Kunst ist es ein hoher Wert, sich unwillkürlich auszudrücken. Die Fähigkeit und der Mut dies zu tun, kann dann in den Werken bestaunt werden.[3] Die Gesellschaft fördert mit der Kunst einen Raum, in dem eine Beziehung zwischen Mensch und Welt gepflegt wird, die sie gleichzeitig in der Normalität als irrelevant denunziert. Und wir können ohne Relevanz in Ausstellungen gehen und bewundern, wie sich Unwillkürlichkeit ausdrücken kann.

Verabscheute Unwillkürlichkeit

Alle paar Jahre gibt es eine entsetzte öffentliche Auseinandersetzung über brutale Gewalt von jungen Männern: ob das Rechtsextreme, IS oder Hooligans sind. Auch dies ist eine Nische, die unsere Gesellschaft der Unwillkürlichkeit bietet. Nie wird darauf verzichtet, auf den barbarischen Charakter hinzuweisen. Sie sind das Unkraut, das dem Gärtner zu schaffen macht.[4] Ihnen fehle die „Selbstkontrolle“. Sie halten sich nicht zurück, sondern agieren impulsiv aus.[5] Das macht diese Barbaren immer wieder so faszinierend.

Wir orientieren uns am Ordnen und schauen mal interessiert, beeindruckt oder auch angewidert auf die außergewöhnlichen Nischen der Unwillkürlichkeit. All diese Nischen markieren den Rand der Gesellschaft.

Das Individuum hat somit ein geordnetes normales Leben und Sehnsuchtsorte der Hingabe. Genau diese Aufspaltung bildet sich so auch in der Gesellschaft ab: Normalität und Nischen der Unwillkürlichkeit am Rand.

3.   Ordnung ist das halbe Leben

Unwillkürlichkeit-Ordnung-halbe-Leben

Mein Schreibtisch hat ein Eigenleben. Es entwickeln sich Haufen von Zetteln, Stifte und vielerlei Krimskrams, USBsticks verschwinden und längst vergessene Texte tauchen wieder auf. Wenn ich nicht ab und zu Ordnung schaffe, verliere ich die Kontrolle.

Jeden Morgen mache ich mir klar, dass es gut ist, sich zu waschen, die Zähne zu putzen und ab und zu mich zu rasieren. Weil ansonsten auch mein Körper ein Eigenleben entwickelt: ich würde verlottern und aus meinen sozialen Zusammenhängen fallen.

Das moderne Leben besteht tatsächlich zu einem sehr großen Teil aus Ordnen, sich dem Eigenleben, dem Unwillkürlichen, dem Chaos entgegenstemmen. Im Ordnen nehmen wir uns als handelnde Subjekte war. In der Art, wie wir ordnen, geben wir uns eine Gestalt und spüren die angeeignete Ordnung als unser Sein.

Ein rechter Jugendlicher beschrieb mir bildhaft, wie er diese Ordnung durch Ausländer bedroht sieht. Sie bringen eine Doppelbödigkeit in seine Ordnung. Immer mehr verliert sie ihre klare Strukturen und er seine Orientierung. Dies ist eine existenzielle Bedrohung, gegen die er sich wehrt.[6]

In meinem Milieu geht man davon aus, dass die mühsam aufgebaute zivilisierte Ordnung gerade von diesen Rechten bedroht sei. Sie haben dem zufolge über Jahre die Ordnung untergraben und kommen jetzt an die Oberfläche. Die wehrhafte Demokratie muss geschlossen zusammenstehen und die drohende Barbarei wieder in den Griff bekommen.

Trotz aller Unterschiede der Positionen sind sie sich einig in der existenziellen Angst vor dem Chaos und dem Wissen, dass man dem mit einer Stärkung der Ordnung begegnen muss. Als moderne Menschen haben wir uns aus der Abhängigkeit von Gott und der Natur emanzipiert. Darum müssen wir uns fortlaufend selbst erfinden. Und egal wie diese Ordnung dann aussieht, sie ist dem Unwillkürlichen abgerungen und kann sich jederzeit wieder auflösen. Dies ist der Druck, der uns immer weiter treibt: miteinander und gegeneinander.

Ja, so gesehen ist Ordnung das halbe Leben. Die andere Hälfte ist die zu regulierende Unwillkürlichkeit. Diese Hälfte taucht in dem guten deutschen Sprichwort aber eben nicht auf.

Schematische Darstellung

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Alles bisher Gesagtes lässt sich auch schematisch darstellen.
Grundsätzlich laufen lebendige Prozesse unwillkürlich ab. So gibt es bei Tieren Bedürfnisse, die sie direkt ausdrücken und befriedigen. Aber auch wir Menschen kennen das noch. Dafür steht Pfeil 1.

Menschsein kann aber auch bedeuten, diesen direkten Ausdruck aufzuspalten und gegensätzlich anzuordnen (2a <-> 2b) Das Bedürfnis wird als Impuls erlebt (2a), dem eine Struktur entgegen gestellt wird (2b). Diese widersprüchliche Anordnung (2a <-> 2b) drückt sich dann in einer Ordnung aus (2c). Es geht um „Zurückhaltung“ und wir nennen es z. B. Kultur oder Zivilisation.

Der unwillkürliche Impuls (2a) wird als regellos und chaotisch erlebt – die kontrollierende Instanz (2b) als menschlicher Geist.
Unsere Faszination für Krimis, Kunst und spirituelle Lehren deutet auf den Widerspruch zwischen 2a und 2b hin. Wir können uns kurzfristig mit unseren Impulsen identifizieren, ohne der Unwillkürlichkeit tatsächlich folgen zu müssen.

In dieser Aufspaltung und Gegensatzanordnung schaffen wir uns die beschriebenen beiden Bereiche: die von Unwillkürlichkeit freigehaltene Ordnung und die Nischen und Sehnsuchtsorten voller Verheißung von Intensität und Glück.[7]

Konsequenzen

Anything goes

Kern des Ordnens ist ein effektives Nein gegenüber dem, was da von unten hoch kommt. Wir lösen uns von dem und können uns so ohne Bindung an die Natur orientieren. Das ergibt riesige Freiräume. Unendlich viele Arten von Gärten sind so möglich. Nur unser Geist setzt Grenzen und die werden mit Hilfe der Technik ausgeweitet. Alles ist möglich, aber ohne Bindung nach unten auch sinnlos.

Ausbrennen

Die Welt erscheint immer komplexer. Unendlich viele Aspekte stehen nebeneinander und doch auch in Beziehung. Was hat meine Urlaubsreise mit dem Insektensterben zu tun? Wieso geht meine Beziehung aus dem Ruder, obwohl wir doch alles richtig machen? Ist der Klimawandel überhaupt verstehbar? Usw. Je komplexer die Welt erscheint, desto mehr drängt es nach ordnender Kontrolle. Und je mehr geordnet wird, desto komplexer erscheint uns die Welt.
Einfachheit ist ein sehr knappes Gut geworden.

Was gestern noch selbstverständlich unwillkürlich funktionierte, erscheint heute als ordnungsbedürftig: Dies gilt auch schon für die Atmung, den Schlaf und den Traum. Und längst versuchen wir unsere Persönlichkeit in den Griff zu kriegen und unser Bewusstsein zu entwickeln. Schon die Kinder sollen zur Impulskontrolle Achtsamkeitskurse mitmachen.

Trotz zunehmender Kontrolle rückt das haltlose Chaos immer näher. Wir spüren das genau und es strengt so an. Aber es gilt: bloß nicht nachlassen!!

Entfremden

Je stärker wir uns ordnen, desto fremder wird uns die innere und äußere lebendige Natur. Das, was einfach pulsiert und sich unwillkürlich ausdrücken will, ist uns unheimlich. Ihm begegnen wir mit Misstrauen und Fremdheit.[8]
Wir vereinsamen im eigenen Körper.

Sehr deutlich wird das in den Naturwissenschaften. Im 19. Jahrhundert bildete sich das Ideal der Objektivität heraus.[9] Wissenschaft wurde zu einem Heldenepos: „Ein Held muß gegen einen würdigen Gegner kämpfen, und diese Helden der Objektivität traten auf dem Feld der Ehre gegen sich selbst an.“ (S. 243) „[Das Selbst] mußte seinen dominanten Willen nach innen richten und Selbstdisziplin, Selbstbeschränkung, Selbstverneinung, Selbstvernichtung und viele andere Techniken der selbstauferlegten Selbstlosigkeit üben.“ (S. 214) Trennung zum eigenen Selbst und zur beobachteten Natur wurde zum Ideal. Dieses „Blindsehen“ (S. 132) ist bis heute Kern des Ordnens.
Entfremdung ist kein Fehler, sondern Programm.

So ist auch das Ordnen selbst überfordert. Wie soll dieses Regelsystem, das die Unwillkürlichkeit konsequent ausgrenzt, einen Zugang zu Naturproblemen bekommen? Ordnen soll etwas regeln, was ihm fremd ist, es nicht versteht.

4. Das gute Leben

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Ja, wir leben in einer Welt, die immer stärker von Entfremdung bestimmt ist.

Unwillkürlichkeit-Das-gute-Leben-Kaufland

Aber es gibt auch die anderen Momente: Eine Musik, die nicht nur schön ist, sondern plötzlich anrührt. Ein gemeinsamer Augenblick, der vielleicht zwei Sekunden länger dauert als notwendig. Eine Stille im Gespräch, die nicht trennt, sondern verbindet. Ein Ausritt, auf dem Anweisungen nicht mehr nötig sind. Eine Traurigkeit meines Gegenübers, die mich weinen lässt. Ein Spiel mit Kindern, das tatsächlich ansteckt. Eine Landschaft, die tiefe Erinnerungen hervorholt.

Das Buch Resonanz ist dick, aber sehr gut lesbar. Die zahlreichen Videos im Internet bieten einen guten Einstieg.
Z. B. dieser Vortrag:

Beim Klick auf das Bild werden Daten an Youtube übermittelt

Der Soziologe Hartmut Rosa hat für diese berührenden Momente den Begriff Resonanz[10] geprägt. Wir Menschen sind von Beginn an auf sie angewiesen und sie sind für ihn die Kennzeichen des guten Lebens. Er beschreibt umfangreich und anschaulich wie „Resonanzräume“ aussehen, sich „Resonanzachsen“ bilden und was „Resonanzkrisen“ mit unserer Gesellschaft zu tun haben. Im Gegensatz zur Entfremdung ist eine resonante Weltbeziehung nicht stumm. „Die Welt antwortet uns, und wir erreichen sie.“ (S. 157)

Resonanz bildet dabei einen Maßstab für ein gelingendes Leben, „einen Maßstab, der es erlaubt, Lebensqualität nicht mehr nur indirekt an der Steigerung von materiellem Wohlstand, Optionen und Ressourcen, sondern direkt an der Qualität der Weltbeziehung zu messen. Ein gutes Leben ist dann eines, das reich an Resonanzerfahrungen ist […].“ (S. 749)

Resonanzerfahrung ist eine Beziehung zur Welt:

  • Etwas berührt mich. Es lässt mich nicht kalt, sondern mitschwingen. Oft nehme ich dabei intensive Emotionen wahr.
  • Ich werde gehört und bekomme eine Antwort von der Welt. Die Antwort ist kein Echo, sondern eine eigenständige Mitteilung.
  • Die Erfahrung bewegt und verändert mich und mein Gegenüber („Anverwandlung“). Wir sind im Kontakt und anschließend nicht mehr dieselben.
  • Resonanzen lassen sich nicht speichern. Man kann die Lieblingsmusik immer wieder hören, aber nicht die Resonanzerfahrungen anhäufen.
  • Resonanzen können nicht systematisch hergestellt werden und wir wissen nicht wie sie enden. Sie sind nicht kontrollierbar und können scheitern. Sie sind „unverfügbar[11]
Ein gutes Leben ist erst einmal leben: sich ausdrücken und beeindrucken lassen, sich die Welt einverleiben und ausscheiden, sich von der Welt zurückziehen und sich in sie ausbreiten, mit der Welt mitschwingen
und sich und sie darin erkennen.

Die stumme Welt wird in der Resonanz zu einem antwortenden Gegenüber. Statt der Sinnlosigkeit und Einsamkeit erleben wir uns eingebunden und verortet. Statt der sortierenden Trennung steht der Kontakt im Vordergrund: berühren und berührt werden und sich darin wandeln.

5.   Das Leben regulieren

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Ordnen soll immer mehr Welt verfügbar machen. Resonanzbeziehungen sind aber „unverfügbar“! Sie werden daher als unreguliert auftretende Vorkommnisse wahrgenommen und widersprechen per se der Ordnung.

Ein seltsamer Widerspruch: Das Hauptmerkmal eines guten Lebens hat in der von uns regulierten Welt keinen Platz und kommt an den Rand.

Aber schon der Herzschlag zeigt, dass unverfügbar nicht unreguliert heißt. Das Herz entzieht sich dem Modus der ordnenden Kontrolle, aber es schlägt unwillkürlich und sehr regelmäßig.

Die Unwillkürlichkeit ist die Regulierung des Unverfügbaren.

„Worte können lügen. Der Ausdruck lügt nie.“ [12]

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Beim Tanzen kann ich ordnend regulieren: ich kann meine Impulse in Schach halten, mir jeden Schritt überlegen und ausführen: meine Körperbewegungen exakt steuern.
Ich kann aber auch darauf vertrauen, dass mein Körper unwillkürlich mit dem Rhythmus mitschwingt, die Bewegungen sich daraus ableiten und sich die Schrittfolgen ergeben. So bietet sich die Chance von der Musik und meinen Mitmenschen im Tanz berührt zu werden und zu berühren, in Resonanz zu treten.[13]

Kontrolle – Vertrauen

Im Ordnen wehrt sich der übergeordnete Gärtner gegen das von unten drohende Chaos. Es geht um Macht gegen die drohende Ohnmacht. In der Unwillkürlichkeit gibt es die Gewissheit einer zugrunde liegenden nicht gemachten Ordnung. Dies gibt die Sicherheit und das Vertrauen, nicht tiefer als in das Leben zu fallen.

Trennung – Bindung

In der Trennung zwischen Subjekt und Objekt liegt eine große Kraft. Das ordnende Subjekt kann das losgelöste Objekt nach eigenem Maßstab gestalten. Darüber hinaus kann das Subjekt versuchen, sich aus gegebenen Strukturen herauszulösen. Es kann sich z.B. beim Tanzen von den Konventionen emanzipieren, sich aber auch über die eigenen Impulse hinwegsetzen.
Diesen Kontrollakt erlebt es als Freiheit.
In der Unwillkürlichkeit geht es um Kontakt und Bindung. Der tänzerische Ausdruck ist demzufolge nicht beliebig, sondern an meine zugrundeliegende Lebendigkeit gebunden. Diese teile ich mit anderen und kann so einen Resonanzraum[14] bilden. Im Ausdruck zeige ich mich und mache mich berührbar.

Weltfremd – Weltsein

Aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion scheint der ordnende Mensch einen Sonderweg in der Natur zu gehen.

Orgonomischer-Funktionalismus-Ordnen-Unwillkürlichkeit
O. (Kontrolle) <-> UW. (Vertrauen) unterscheiden sich und stehen sich konträr gegenüber. Beide variieren die zugrundeliegende lebendige Regulierung auf ihre Weise.

Er betrachtet die Welt von außen und formt sie. Er kann sie nur aus dieser Sonderposition her denken (anthropisch) und die Welt steht ihm fremd gegenüber.[15]

Die Unwillkürlichkeit geht vom Leben aus. Lebewesen sind begrenzt und aufgrund dieser Hülle können sie sich (her)ausdrücken.[16] Hierin ist der Mensch identisch mit allen Amöben und Elefanten. Wir sind Welt. Die weltfremde Position außerhalb der Natur ist hier ohne Bedeutung. Alle Variationen des Lebens (bis hin zur Kognition und Selbstreflexion) sind Ausdruck eines Evolutionsprozesses.

Herrschaft – Selbstregulierung

Beim Ordnen geht es um Hierarchie und Macht. Dem Gehirn wird dabei eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Diese kann aber auch z.B. an Computer übergeben werden.
Unwillkürlichkeit beschreibt die Selbstregulierung von Lebewesen. Nur Tote können dem Regelwerk der Unwillkürlichkeit entgehen.

Einfach – Komplex

Im Ordnen wird alles in Faktoren zerlegt und kausal verbunden. Probleme können so gezielt angegangen werden. Je weniger Faktoren es gibt, desto besser klappt diese Regulierung. Das menschliche Gehirn wäre für einen ordnenden Gärtner eine völlige Überforderung.
In der Unwillkürlichkeit „kennen sich“ die unterschiedlichen Anteile über den Bezug zur zugrunde liegenden Identität. Entwicklung und Regulierung von komplexen Gebilden wie z.B. dem Gehirn ist hier kein Problem.

Progressiv – konservativ

Mit jedem Ordnungsschritt gibt es neue Trennlinien und neue Spalten, durch die das Chaos eindringen kann. Treibende Kraft ist die Hoffnung, dass ein neues Ordnen die Spannung endlich löst. Ordnen will immer weiter, ist entwicklungsorientiert und fortschrittsgläubig.
Die Unwillkürlichkeit weist auf das Gegebene, das, was dem Ausdruck zugrunde liegt. Das Neue ist immer nur eine Variation des schon Vorhandenen.

Die großen Themen brauchen die Unwillkürlichkeit

Im Ordnen haben wir einen großen Teil der Welt verfügbar gemacht und sind dabei sehr reich geworden. Gleichzeitig tauchen immer drängender Probleme z. B. im Naturschutz auf.

Unwillkürlichkeit-Naturschutz

Perspektive des Ordnens

Aus der Sicht der Ordnens erscheint hier die Möglichkeit der Verfügbarmachung begrenzt: die Ressourcen werden knapp und wir zerstören unsere Lebens- bzw. Reichtumsgrundlage. Noch scheint es möglich, durch technischen Fortschritt (z.B. Sonnen- und Windenergie) neue Gebiete zu erschließen. Aber die Grenzen der nutzbaren Welt sind in Sicht.

Gründe für diese Selbstzerstörung liegen im Sinne des Ordnungsmodells klar auf der Hand: wir folgen zu sehr unseren Impulsen! Wir konsumieren zu viel, fliegen zu oft in den Urlaub, fahren zu gern Autos, heizen zu viel, duschen zu lange, essen zu viel Fleisch usw. Wir sind Umweltsünder.

Dagegen soll die Zurückhaltung helfen. Immer neue Kampagnen sollen die moralische Regulierung gegen unsere eigenen Interessen stärken. Zurzeit stehen der Klimawandel als Problem und die Orientierung an der „Nachhaltigkeit“ als Gegenmittel im Zentrum. Die Rebellion gegen diese eigene Bevormundung ist aber absehbar und führt zu immer neuen Gegensatzanordnungen.

Perspektive der Unwillkürlichkeit

Ordnen 2.0
Im Ordnungsprozess haben wir uns inzwischen so weit verdinglicht, dass wir für die nächste Stufe des Ordnens bereit sind.
Wir machen uns verfügbar für einen über uns angelegten Gärtner.
Diesen neuen Gott nennen wir Digitalisierung oder kurz KI und unterwerfen uns seinen Regeln bereitwillig.
Diese neue selbstverschuldete Unmündigkeit ist Merkmal einer Dialektik der Aufklärung, die angetreten war, uns genau daraus zu befreien.

Aus dieser Sicht stellt sich ein anderes Problem dar:
Aufgrund der Vorherrschaft des Ordnens wird immer mehr Welt verfügbar und somit der Unwillkürlichkeit entzogen. Die Möglichkeiten eines resonanten guten Lebens schwinden, die Menschen verlieren den Kontakt zur inneren und äußeren Natur.

Naturzerstörung bedeutet hier vor allem der Verlust und das Verstummen der Resonanzpartner. Wir verlieren fortlaufend Lebensqualität. Die Menschen leiden unter der Einsamkeit und Sinnlosigkeit und suchen immer neue Wege, die fehlende Bindung zu ersetzen.

Naturschutz ist hier ein egoistisches Interesse an unverfügbaren Resonanzpartnern für ein gutes Leben!

Unwillkürlichkeit ins Zentrum

Wie oben beschrieben, kennen wir beide Arten der Regulation. Aber in den letzten Jahrhunderten wurde die Unwillkürlichkeit immer stärker an den Rand gedrängt.
Das muss sich ändern!
Nur so können wir die wichtigen Themen unserer Zeit konstruktiv angehen und dem guten Leben Raum geben:

Die Unwillkürlichkeit gehört ins Zentrum unseres Lebens! Die Ausgrenzung muss aufhören!
Ohne Unwillkürlichkeit im persönlichen und gesellschaftlichen Zentrum gibt es kein gutes Leben!

6. Was können wir nun tun?

Unwillkürlichkeit-was-tun

Erst einmal tief Luft holen, einen kleinen Moment innehalten.

Ja, die Vorstellung des Ordnens war einmal ein sehr wertvoller Gedanke. Die Alleinherrschaft dieses Regelwerks führt jetzt aber dazu, dass wir die Möglichkeiten eines guten Lebens zerstören.

Unsere Welt stirbt.

  • Die Anzahl z.B. freier Wirbeltiere und Insekten sinkt dramatisch.[17] Die Artenvielfalt der Lebewesen nimmt rapide ab.
  • Gleichzeitig nehmen die Anzahl und Arten toter Kommunikationspartner rasant zu.

Wir bauen die Welt um: Der Garten des Lebens wird zu einem toten Maschinenpark.

Mich macht das betroffen und gleichzeitig weiß ich: Betroffenheit ist irrelevant.

Ich möchte, dass das, was uns als Lebewesen ausmacht (berührt werden, Empathie, lebendige Resonanz), in der Art, wie wir unsere Welt regulieren, relevant ist.

Darum schreibe ich diesen Text für die Unwillkürlichkeit.

Raus aus der Ausgrenzung

Zum einen muss die Unwillkürlichkeit weg vom Rande der Gesellschaft.

Sie gehört nicht in die spirituelle Nische. Um sich entsprechend zu orientieren, benötigt man weder einen besonderen Zugang zum Geistigen noch ein „hohes Bewusstsein“. Es geht einfach um Biologie, um das Wissen, ein Lebewesen zu sein und sich wie ein Lebewesen regulieren zu können.

Auch der ganze Bereich der Esoterik und Irrationalität ist nicht der richtige Ort der Unwillkürlichkeit. Das Denken und die Vernunft sind doch eine der spannendsten Variationen der Unwillkürlichkeit.

Und Versuche, den Willen, das Wollen aufzulösen, weg zu meditieren, haben nichts mit Unwillkürlichkeit zu tun. Unwillkürlichkeit ist ein tragfähiges Fundament des Wollens. Figal drückt das sehr schön aus:

„Unwillkürlich kann auch Tun genannt werden, in dem das Unwillkürliche die willentlichen und absichtlichen Momente des Tuns bestimmt oder grundiert, möglicherweise auch umgreift und ihnen ihren Sinn gibt.“[18]

Unwillkürlichkeit ist auch kein großes Projekt für besondere Menschen, die irgendwie weiter sind. Unwillkürlichkeit schafft jeder Regenwurm und auch wir normale Menschen können es. Der Regenwurm variiert dies Regelwerk, indem er sich durch die Erde frisst. Das werden wir wohl nie schaffen. Auch werden wir wohl nie die Unwillkürlichkeit wie die Vögel im Fliegen variieren. Dafür können wir sie aber im Bereich des Selbstbewusstseins ausdrücken, was den meisten anderen Tieren schwer fällt.

Rein ins Zentrum

In den Schulen, wo die Kinder sozialisiert werden, in der Politik, wo Gesetze geprägt werden, in der Wirtschaft, wo unser Lebensgrundlage erarbeitet wird, in der Wissenschaft, wo Entscheidungen fundiert werden – kurz: im Zentrum der Gesellschaft brauchen wir viel Platz für das Regelwerk Unwillkürlichkeit.

Nicht ordnen

Der leichteste Weg wäre es, einen neuen Garten mit dem Namen „Unwillkürlichkeit“ anzulegen. In unserer Rolle als Gärtner würden wir schnell Mittel finden, die Gegenimpulse zur Unwillkürlichkeit in den Griff zu bekommen. Dem Wesentlichen der Unwillkürlichkeit – dem Vertrauen – würden wir so allerdings aus dem Weg gehen.

Es geht nicht um eine bessere Ordnung. Davon haben wir genug.

Gott erschuf die Welt als seinen Garten. Seit der Aufklärung sagen wir ihm, dass wir ihn als Gärtner nicht mehr brauchen. Wir haben seinen Job übernommen.
Die gute Botschaft:
Die Welt benötigt gar keinen Gärtner,
weder Gott noch uns Menschen!

Es muss auch nichts Neues geschaffen oder integriert werden. Wir dürfen vielmehr einfach das machen, was alle Lebewesen machen: Das pulsierende Leben nicht in die Vorstellung von Ordnung und Chaos aufspalten und gegensätzlich anordnen.[19]

Unwillkürlichkeit kann man nicht machen, lernen oder üben. Aber man kann versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen.

Nur Selbstbild ändern

Wir können einfach annehmen, was wir eh schon wissen: der Mensch ist nicht als Geistwesen vom Himmel gefallen und hat sich auch nicht dem Chaos abgerungen. Er ist mit all seinen Fähigkeiten Ausdruck des evolutionären Prozesses. Das ist in Deutschland schulisches Grundlagenwissen.
Wir können also unser Tiersein, unser Lebendigsein ernstnehmen und wertschätzen! Mehr nicht.
Wir können uns endlich wieder vom Kopf auf die Füße stellen.
So spüren wir die Basis, auf der wir stehen und die uns mit allen Lebewesen verbindet. Es bilden sich Resonanzräume, in denen wir verstehen und mitschwingen.

Das ändert grundsätzlich unsere Perspektive auf die Welt: Wir müssen keine Ordnung schaffen, die der gegebenen widerspricht. Wir dürfen Ja sagen, auch wenn es dem Impuls entspricht.

Unser Misstrauen gegenüber der Natur, unser Bedürfnis, unser Tiersein, das Leben zu kontrollieren, wäre nicht mehr so umfassend. Anstelle von Sehnsuchtsorten der Ganzheit würde das Vertrauen in das Gegebene, die Realität treten. Ohne dies Vertrauen würde jeder Vogel vom Himmel fallen und wird jeder Gedanke erstarren.

Unsere Energie, die wir bisher in die Bremsung unserer selbst investieren, könnte in unseren lebendigen Ausdruck fließen. Wir wären eine Bereicherung der Natur und keine Bedrohung mehr.

Wie ist es, wenn ich unwillkürliche Bewegungen in der Sexualität, im Alltag, im Kontakt mit der Welt und den Menschen zulasse? Was ist, wenn meine Gedanken mit meinem Pulsieren mitfließen und es nicht in den Griff kriegen wollen?

Vertrauen ins Leben heißt, die Unwillkürlichkeit zulassen und als Regulierung annehmen.

Verstehende Naturwissenschaft

Wer weiß: vielleicht würden so Dichter in der Gesetzgebung einbezogen, Kinder dürften sich beim Lernen bewegen usw.

Mir besonders wichtig ist aber die Wissensproduktion von unserer Welt. Die ordnende Naturwissenschaft ist mit ihrer abstinenten Haltung und Maschinenlogik (Ursache-Wirkung) schon lange überfordert. Sie könnte so einen verstehenden Zugang zur Natur entwickeln. Ähnlich wie in den Sozialwissenschaften gemeinsame Sinnwelten erforscht werden, könnte man hier in Resonanzräume anderer Lebewesen eintreten. Naturforschung, die auf Kontakt basiert, die „verstehen“ will, in der sich die ForscherInnen berühren lassen, würde eine ganz neue Qualität von Wissen ermöglichen.

Eigentlich einfach, aber nicht leicht

Eigentlich ist alles sehr einfach. Die Wichtigkeit der Unwillkürlichkeit für unsere großen Probleme und für das gute Leben ist klar. Außerdem haben wir als Lebewesen alle Voraussetzungen dafür.

Eigentlich einfach, aber doch fällt es uns schwer, die Unwillkürlichkeit zuzulassen.

Da sind zum einen unsere Größenbilder von unserer Sonderstellung als Geistwesen (gottnah) und jetzt sollen wir wieder zu unsere Tiernähe stehen?!

Außerdem ist da noch unsere Angst vor dem Unwillkürlichen, das wir als haltlos erleben. Es fällt uns viel leichter, uns an Regeln der toten Maschinen zu halten als dem lebendigen Pulsieren zu vertrauen. Selbst wenn wir wollen oder sollen ist es selten leicht, die „unwillkürliche Konvulsion“ z. B. beim Sex zuzulassen.

Schon 1933 beschrieb Wilhelm Reich die Orientierung am Maschinellen und gleichzeitiger Ablehnung des Tierseins als eine Grundlage des Faschismus.

„Der sogenannte Kulturmensch wurde tatsächlich eckig, maschinell, ohne Spontanität, d. h. er entwickelte sich zu einem Automaten und zu einer ‚Hirnmaschine‘. Er glaubt also nicht bloß, daß er wie eine Maschine funktioniert, sondern er funktioniert tatsächlich automatisch, mechanisch-maschinell.[20]

Dies schrieb er Jahrzehnte bevor deutlich wurde, wie sehr wir uns anstrengen, mit den Computern kompatibel zu werden.

Wir sind unbewandert im Vertrauen ins Leben: es ist für uns nicht leicht, unwillkürliche Bewegungen im Körper und Geist als solche zu erkennen, zuzulassen und anzunehmen. Wir müssen nicht Unwillkürlichkeit üben, aber uns unsere „Ja, Abers“ anschauen und mit den Ängsten umgehen lernen.

Hier liegen für mich die wichtigen persönlichen und gesellschaftlichen Baustellen. Das Zulassen der Unwillkürlichkeit ist mir viel wichtiger als irgendeine Bewusstseinsentwicklung: das Leben kommt gut ohne hohe Bewusstseinsstufen aus, aber ohne Unwillkürlichkeit verdorren wir zu einem öden Maschinenpark.


Endnoten

[1] Bauman (1996) zum Bild des Gärtners S.43ff, zur Gegenüberstellung von Ordnung und Chaos S. 18ff. Eine Zusammenfassung findet sich in Diedrich (2003) Kap. 3.4.3, S.224ff

[2] Statt sich der „unwillkürlichen Konvulsion“ hinzugeben, versucht ein neurotischer Mensch in seinem Garten „guten Sex zu machen“. (vgl. Orgastische Potenz)

[3] Günter Figal beschreibt in seinen Essays den Zusammenhang zwischen Kunst und Unwillkürlichkeit: „Von dem her, was in den Werken unwillkürlich ist und nicht anders als unwillkürlich sein kann, versteht man das Unwillkürliche im künstlerischen Tun“ Figal (2016), S. 57

[4] Sofsky (1996) „Gewalt schafft Chaos, und Ordnung schafft Gewalt. Dieses Dilemma ist unauflösbar. Gegründet auf der Angst vor Gewalt, erzeugt die Ordnung selbst neue Angst und Gewalt.“ S. 10, vgl. Diedrich (2003) S. 174ff

[5] In der Kriminologie haben die sog. „Kontrolltheorien“ einen hohen Stellenwert. Im Text „Münchhausen und die Kontrolltheorien“ setze ich sie in Beziehung zum Selbstverständnis des modernen Menschen. Diedrich (2016)

[6] Diedrich (2003): Aus-einander-setzung mit Gewalt, Oskar. S.54ff

[7] Die grafische Darstellung orientiert sich an Wilhelm Reichs Funktionsschemata. Vgl. Diedrich (2003)

[8] Welsch (2012) stellt diese „Weltfremdheit“ als „dualistisches Unterfutter der Moderne“ (S.56ff) dar. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung einer „Opposition von Mensch und Welt“ stellt er eine konsequent evolutionäre Argumentation, die auch die Kognition umfasst.

[9] Folgende Zitate von: Daston (2007), L.; Galison, P.: Objektivität

[10] Rosa (2016) Eine Definition findet sich u.a. auf S. 298.
Eine große Schwäche des Begriffs liegt darin, dass er unkritisch der Physik entlehnt wurde (vgl. Beispiel mit den zwei Metronomen S. 284). Die proklamierte „Unverfügbarkeit“ liegt hier eben nicht vor. Sie ist vielmehr ein Aspekt der Unwillkürlichkeit, die so eben nur im Bereich des Lebens vorkommt. Im verlinkten Video werden ähnliche Widersprüche deutlich.

[11] Dem widersprechend gibt es natürlich sehr viele Versuche, auch Resonanz zu verdinglichen. Beispiel: 90 Prozent der Gründe für Kaufentscheidungen liegen im emotionalen Bereich – wie können wir also noch bewusster und wirksamer diese emotionale Ebene beeinflussen? Die Antwort lautet: Bewusst gestaltete Resonanz durch die Aktivierung der Spiegelneuronen.“ Bernhard Cevey: Das Geheimnis der Resonanz – wie Sie mit Ihrer Einstellung überzeugen

[12] Reich (1981) Charakteranalyse, S.363; Unwillkürlichkeit als Regulierung wird bei Reich als „Selbstregulierung“ u.a. in den Bereichen Sexualität, Arbeit und Denken beschrieben. Resonanz ist für ihn die grundsätzliche Form der lebendigen Kommunikation. Die „Ausdrucksbewegung“ (E-motion) steht dabei im Zentrum, Reich (1981) S.362ff; vgl. Diedrich (2000) S.75ff

[13] TänzerIn und TänzerIn können sehr unterschiedlich sein, aber beide vertrauen auf den Rhythmus der eigenen Pulsation und der Musik. So konstruieren sie einen gemeinsamen Resonanzraum, den sie unterschiedlich variieren, in dem sie aber im Kontakt sind.

[14] Rosa hat in meinen Augen Schwierigkeiten, einen Resonanzraum zu definieren. Er meint ihn nicht nur als Metapher. Aber aus Angst in eine esoterische Ecke verortet zu werden (S. 285), bleibt er vage oder greift auf untaugliche mechanistische Modelle zurück (untauglich, weil diese Modelle eben „verfügbare“ Resonanz abbilden).

[15] Vgl. Welsch (2012) S.10ff

[16] Im Gegensatz zu totem Material „realisiert“ Leben die eigene Begrenzung und hat somit eine Umwelt. Vgl. Def. von Leben durch H. Plessner

[17] „Im Vergleich zu 1970 leben 60 Prozent weniger Wirbeltiere auf der Welt.“ „‘Die Situation ist wirklich schlecht, und sie wird immer schlechter‘, sagte WWF-Direktor Marco Lambertini. […] Für den Menschen könne es keine Zukunft geben, wenn die Erde ihrer biologischen Vielfalt beraubt werde.“ Tagesschau.de 30.10.2018

[18] Figal (2016) S. 56

[19] Der ansteigende Meeresspiegel zeigt deutlich wie absurd unser Größenbild „Ohne uns die Sintflut“ ist.

[20] Reich (1986) S. 303


Quellen

Bauman (1996), Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Frankfurt/M 1996

Daston (2007), Lorraine/ Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt/M 2007

Diedrich (2000), Ingo: Naturnah forschen. Wilhelm Reichs Methode des lebendigen Erkennens. Berlin 2000 (z.Zt vergriffen, demnächst als E-Book)

Diedrich (2003), Ingo: Aus – einander – setzung mit Gewalt. Eine orgonomisch funktionalistische Argumentation. (freie PDF-Datei) 2003

Diedrich (2016), Ingo: Münchhausen und die Kontrolltheorien. (freie PDF-Datei) 2016

Figal (2016), Günter: Unwillkürlichkeit. Essays über Kunst und Leben. Freiburg im Breisgau. 2016

Reich (1981), Wilhelm: Charakteranalyse. Frankfurt/M 1981

Reich (1986), Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt/M 1986

Rosa (2016), Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016

Sofsky (1996), Wolfgang: Traktat über die Gewalt. Frankfurt/M 1996

Welsch (2012), Wolfgang: Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie. Nördlingen 2012

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