Schopenhauer und der Unterschied zwischen Mensch und Tier
„Der allein wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Thier, den man von jeher einem, Jenem ausschließlich eigenen und ganz besonderen Erkenntnißvermögen, der Vernunft , zugeschrieben hat, beruht darauf, daß der Mensch eine Klasse von Vorstellungen hat, deren kein Thier theilhaft ist: es sind die Begriffe, also die abstrakten Vorstellungen; im Gegensatz der anschaulichen, aus welchen jedoch jene abgezogen sind.
Die nächste Folge hievon ist, daß das Thier weder spricht, noch lacht; mittelbare Folge aber alles das Viele und Große, was das menschliche Leben vor dem thierischen auszeichnet. Denn durch den Hinzutritt der abstrakten Vorstellung ist nunmehr auch die Motivation eine anderartige geworden. Wenn gleich die Handlungen des Menschen mit nicht minder strenger Nothwendigkeit, als die der Thiere, erfolgen; so ist doch durch die Art der Motivation, sofern sie hier aus Gedanken besteht, welche die Wahlentscheidung (d.i. den bewußten Konflikt der Motive) möglich machen, das Handeln mit Vorsatz, mit Ueberlegung, nach Plänen, Maximen, in Uebereinstimmung mit Andern u.s.w., an die Stelle des bloßen Impulses durch vorliegende, anschauliche Gegenstände getreten, dadurch aber alles Das herbeigeführt, was des Menschen Leben so reich, so künstlich und so schrecklich macht, daß er, in diesem Occident, der ihn weiß gebleicht hat und wohin ihm die alten, wahren, tiefen Ur-Religionen seiner Heimath nicht haben folgen können, seine Brüder nicht mehr kennt, sondern wähnt, die Thiere seien etwas von Grund aus Anderes, als er, und, um sich in diesem Wahne zu befestigen, sie Bestien nennt, alle ihre ihm gemeinsamen Lebensverrichtungen an ihnen mit Schimpfnamen belegt und sie für rechtlos ausgiebt, indem er gegen die sich aufdrängende Identität des Wesens in ihm und ihnen sich gewaltsam verstockt.
Dennoch besteht, wie eben gesagt, der ganze Unterschied darin, daß, außer den anschaulichen Vorstellungen, die wir im vorigen Kapitel betrachtet haben und deren die Thiere ebenfalls theilhaft sind, der Mensch auch noch abstrakte, d.h. aus jenen abgezogene Vorstellungen in seinem, hauptsächlich hiezu so viel voluminöserem Gehirn beherbergt. Man hat solche Vorstellungen Begriffe genannt, weil jede derselben unzählige Einzeldinge in, oder vielmehr unter sich begreift, also ein Inbegriff derselben ist. Man kann sie auch definiren als Vorstellungen aus Vorstellungen. Denn bei ihrer Bildung zerlegt das Abstraktionsvermögen die, im vorigen Kapitel behandelten, vollständigen, also anschaulichen Vorstellungen in ihre Bestandtheile, um diese abgesondert, jeden für sich, denken zu können als die verschiedenen Eigenschaften, oder Beziehungen, der Dinge. Bei diesem Processe nun aber büßen die Vorstellungen nothwendig die Anschaulichkeit ein, wie Wasser, wenn in seine Bestandtheile zerlegt, die Flüssigkeit und Sichtbarkeit. Denn jede also ausgesonderte (abstrahirte) Eigenschaft läßt sich für sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch anschauen.“
(Schopenhauer, A. (1813). „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde.“, Seite 39).
Schopenhauer Bild: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8a/Schopenhauer.jpg