Mein Krebs

Seit 30 Jahren ist er mein Begleiter – mein Krebs. Er gönnt mir Pausen, aber bleibt präsent.

mein Krebs als Begleiter

Ich stelle ihn mir gern als Begleiter vor und nenne ihn „mein Krebs“, so als ob er zu mir gehört, aber nicht ich bin. Ihn auf Distanz denken, ist so möglich. Er wird zu einem Fremden in mir, der sich manchmal nach vorne drängt. Ich kann mit ihm in Kontakt treten, aber auch als dunkle Wolke ignorieren.

Für Wilhelm Reich ist Krebs eine „Biopathie“, eine sehr grundsätzliche Erkrankung des ganzen Lebewesens. Die behandelnden Ärzte tun so, als ob sie ihn als Tumor herausschneiden könnten. Dies ist mein Spannungsfeld mit dem Krebs.

Ich hätte gern ein Leben ohne ihn gelebt, unbeschwerter. Gleichzeitig hat er mir die intensivsten Zeiten meines Lebens geschenkt. Er fokussiert mich.

Meine Besuche im Klinikum sind meine regelmäßigen Retreats. Immer die gleichen Rituale, die gleichen Gefühle, die gleichen Blicke der Mitmenschen in der ‚Onkologischen Sprechstunde‘. Und immer die gleiche Konfrontation mit den wesentlichen Fragen des Lebens.

‚Entwicklung‘, ‚Erleuchtung‘ und dergleichen Verheißungen der Moderne sind mir unwichtig. Ich will einfach nur mit vollem Herzen leben. Lebendigkeit ist mein Fokus!

Und mein Krebs pocht mit aller Vehemenz darauf, dass ich dafür die Begrenztheit mitdenken muss.


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3 Kommentare
  1. Andreas Ibrom
    Andreas Ibrom sagte:

    Das sind starke, lebendige Worte. Danke!

    Ich lese gerade Martin Buber – „Die Frage an den Einzelnen“ und will gerne eine Stelle mit dir und euch teilen:
    „Die Botschaft, die an ihn [dem oder der Einzelnen] von dieser Stunde her, in der Erscheinung dieser Situation ergeht, muss er unbeschönigt, unverdelt vernehmen; er darf auch ihre wilde, krasse Profanität nicht ins keusch Religiöse übersetzen; er muss erkennen, dass die Frage an ihn, die sich in der Sprache der Situation birgt, ob die nun nach Engels- oder Teufelszungen klingt, Gottes Frage an ihn bleibt, natürlich ohne dass damit die Teufel zu Engeln würden. Frage ists, auf Wundersart dem wilden, krassen Laute eingetönt; und antworten soll er, der Einzelne, mit seinem Tun und Lassen antworten, die Stunde, die Weltstunde, die Allerweltsstunde als die im gewordene, ihm anvertraue annehmen und verantworten. Abstrich ist verboten, aussuchen darfst du dir das dir Zusagende nicht, das ganze grausame gilt, die ganze heischt dich an, antworten sollst du – Ihm.“

    Liest sich fasst so, wie dein Programm: unbeschönigt unveredelt – unverteufelt unverdammt, will ich hinzufügen. Wir kommen alle an eine Stunde, in der die Frage deutlich und unüberhörbar wird – davor fürchten sich die meisten. Die Vorstellung, dass jede Stunde eine Ansprache in der Sprache der Welt an einen ist, ist sympathisch und erschreckend zugleich. Adé Langeweile!

    Ich wünsche mir, dass du und dein unbequemer Begleiter noch lange in einem guten lebendigen Verhältnis verbleiben, bis sich eure Wege dann im Guten trennen.

    Antworten
    • Ingo Diedrich
      Ingo Diedrich sagte:

      Dein Satz, „dass jede Stunde eine Ansprache in der Sprache der Welt an einen ist“ berührt mich und bringt einiges auf den Punkt. Ja, und diese Art der Ansprache gilt es in ihrer „wilden, krassen Profanität“ auszuhalten. Die Welt nicht zum Objekt machen, sondern als Gegenüber annehmen. Da liegt so viel Kraft und Geborgenheit drin. Und gleichzeitig ist alles sehr beunruhigend. Adé Langeweile!

      Antworten
  2. Karoline Krempel
    Karoline Krempel sagte:

    Gleich hatte ich einen Gedanken und wollte einen Kommentar schreiben, da finde ich den Bezug zum Religiösen schon im ersten, in Andreas´ Kommentar. Mmh. Welche Wandlungen erfährt das Religiöse, das Spirituelle im Laufe unseres Lebens?
    Nun, ich bleibe ganz erdverbunden, und erzähle einfach, wie ich das Sterben, besser: das Totsein, mit neun Jahren beschlossen habe: Zwei Jahre lang hatte ich abends, mit dem Krokodil unter dem Bett, darüber nachgedacht, wo ich sein werde, wenn ich tot bin. Zwei Jahre waren das, während derer der Tod in meinem Leben präsent war. Am Ende kam ich zu dem Schluß: Wenn ich tot bin, bin ich weg.
    Zwischendurch, ich war acht, ist Omma Mimmi gestorben, und ich erlebte zum ersten Mal eine Beerdigung. Und wahrlich: Nach allen üblichen Ritualen, mit Sarg und Blumen, Tränen und Totenkaffee, war sie eben weg. Die Erkenntnis hielt lange.
    Mit der Zeit aber, und da ich in einer sowohl katholischen als auch evangelischen Familie aufgewachsen bin, lernte ich, daß der Tod viel länger als nur zwei Jahre ein Begleiter im Leben ist, nämlich ist er ein steter Begleiter. Das kann man auf jeden Fall von den Katholiken lernen.
    Als Mama starb, waren also meine Erkenntnis und mein Begleiter schon sehr lange immer in meiner Nähe. Im Augenblick der Handlungsnotwendigkeit aber fehlte der Tod tagelang – fehlte ihr Tod. Er fehlte als ich Mama auf ihr Bett legte, sie wusch, sie einrieb mit Tymian und Rose, ihr ihre schöne Bluse anzog, die Schuhe, die einzigen, die sie in den letzten Jahren trug; er fehlte auch in ihrer Perle, die ich um ihren Hals legte, in ihren aufeinandergelegten Händen und ihrem, im Laufe der Stunden schöner und schöner werdenden, Gesicht – alles war lebendig, wenn auch vielleicht nicht in dem Sinne, den wir dem Lebendigsein sonst geben.
    So fehlte auch lange die Trauer. Die Menschen, die kamen, um Abschied zu nehmen, fanden eine lebendige Gestalt, sodaß Tante Mia sagen konnte: Als ob sie schläft. Und so lebte man im Wohnzimmer weiter mit allen Notwendigkeiten, während nebenan die Mutter, schlafend, auf ihrem Bett lag, im orangefarbenen Licht ihrer Gardinen und immer mal wieder jemanden zu Gast hatte.
    Wenn ich tot bin, bin ich also nicht gleich weg. Erst später, bevor ich unansehnlich werde und nachdem mich irgendwer wohin getragen hat, wo ich nicht mehr zu sehen bin. Und Mama, so, wie alle meine katholischen Familienmitstreiter, hatte den Tod bis zuletzt mit sich getragen. Sichtbar für uns an jedem lebendigen Tag. Sie hat ihn in sich selbst sogar noch für die Zeit nach dem Sterben aufbewahrt und hegte ihn vermutlich noch unter dem geschlossenen Sargdeckel – bis sie eben weg war.
    Ich gehe fest davon aus, daß das Leben mit einer Krankheit, die lange als unheilbar galt und im Leben ihren Schrecken verbreitet, eine andere Qualität hat. Es zeigt jedoch, daß wir, entgegen der, insbesondere modernen Auffassung vom Leben, nicht allein das Leben stets bemühen und vergöttern müssen, um uns lebendig zu fühlen oder so zu scheinen. Auch die ununterbrochene Anwesenheit des Todes kann dazu führen, daß das Leben aus uns heraus leuchtet.

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