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Lore Reich: eine chaotische Welt

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Wilhelm Reich war einer der spannendsten Menschen des 20 Jahrhunderts. Dies gilt für seine Forschungen, aber auch für sein Leben. Seine Biografie ist voller Brüche, Neuanfänge und einer fortlaufenden Suche nach einen eigenen Standpunkt.

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Er begann nach dem 1. Weltkrieg als Psychoanalytiker, musste mehrfach umsiedeln und starb in den USA im Gefängnis. Über Reich gibt es zahlreiche Biografien.[1]

Lore Reich Rubin – aufgewachsen in einer chaotischen Welt

Lore Reich Rubin eine chaotische Welt

Aber wie erlebt dies ein Kind, dass in dieses Leben hineingeboren wird? Lore Reich Rubin wurde als jüngste Tochter von Anni und Wilhelm Reich 1928 in Wien geboren. Sie zog in den ersten zehn Jahren mehrfach zwischen Wien, Berlin und Prag um und lebte längere Zeit nicht bei ihren Eltern. Der Kontakt zu Wilhelm Reich war oft unterbrochen und 1938 zog sie mit ihrer Mutter in die USA.

Über 90jährig veröffentlich sie nun ein autobiografisches Buch ihrer ersten 30 Jahre: Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Anni Reich und Wilhelm Reich.[2]

Das Buch liest sich gut und ihr Erinnerungsvermögen gerade an die frühe Zeit ist bewundernswert. Es ist ein sehr persönliches Buch, in dem Familieninterna schonungslos dargestellt und interpretiert werden.

Es wird schnell deutlich, wie sehr sie unter der Situation gelitten hat und wie lange sie zur Verarbeitung benötigte.

Alles grau … „ja sogar das Essen ist grau.“ (14)

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„In meiner Erinnerung ist das Leben trüb und einsam, in den Filmen [von ihrem Vater] bin ich in einem wundervollen Kindergarten, zwei Jahre alt, ernsthaft am Geschirrwaschen.“ (14) Ihre Erinnerungen sind geprägt von schweren Gefühlen. Die schönen Momente fügt sie immer Mal wieder ergänzend hinzu.

„Unsere Eltern sahen sich als wichtigen Teil der intellektuellen und gesellschaftlichen Revolution. Sie waren Psychoanalytiker, sie waren Intellektuelle, sie waren Marxisten“ Und bitter fügt sie hinzu: „Im Jahre 1929, als ich ein Jahr war, reisten meine Eltern für vier Monate in die Sowjetunion, um Zeuge der Revolution zu sein“ (17)

Zwei Jahre später bekommt sie einen Streit ihrer Eltern mit, in dem es darum ging „uns Kinder loszuwerden.“ „Wie einfach es doch für ihn war, seine persönlichen Bedürfnisse mit einer Ideologie zu vereinen.“ „Kinder sollten in einer Kommune fern der Familie aufgezogen werden, sodass sie keinen Ödipuskomplex entwickeln können und zugleich sozialistische Werte erlernen.“ (19)

Ausgrenzungen und Demütigungen

Sichere Zugehörigkeit ist in ihrem Leben ein sehr seltenes Gut. Ihr Vater machte ihr in seiner Dominanz und Wut Angst und ihrer Mutter fehlte die „Mütterlichkeit“. Diese Erfahrungen gehen aber weit über die Familie hinaus. Immer wieder schildert sie ihre Ausgrenzungserfahrungen bis hin zur Flucht 1938 vor den Nazis in die USA. Aber auch dort ist die schwere Integration einer ihrer Hauptthemen.

Bei aller Entfremdung von ihrem Vater, teilt sie mit ihm dieses Thema als roten Faden der Biografie.

In der Familie scheint sich erst mit Wilhelm Reichs Tod (1957) etwas zu ändern: „Es war, als wäre ein böser Geist vertrieben worden.“ „[…] als hätten sie nach Willis Tod endlich die Erlaubnis erhalten, eine gute Beziehung zueinander aufzubauen.“ (249)

In der Wilhelm Reich Szene wird an vielen Stellen bis heute an der Wichtigkeit der Aufspaltung festgehalten.


Beim Klick auf das Bild werden Daten an Youtube übermittelt
Der Film gibt auch einen kurzen Eindruck von Lore Reich Rubin im Gespräch über Wilhelm Reich

Verwicklungen

Ein spannendes Buch, das mir eine neue Perspektive auch auf Wilhelm Reichs Leben anbietet. Besonders wichtig sind mir dabei die gut herausgearbeiteten Verwicklungen der Lebensbereiche Politik, Beruf und Privates.

Ein Beispiel für die Verwicklungen der Ebenen:

1933 lebte ihr Vater Wilhelm Reich schon im Exil in Skandinavien. Die Eltern waren getrennt. Die ältere Schwester Eva machte eine Analyse bei Berta Bornstein, der besten Freundin ihrer Mutter. Die Lehranalytikerin von Bornstein war Anna Freud, die ein großes Interesse hatte, W. Reich aus der Psychoanaltischen Gesellschaft zu drängen. Bornstein schrieb W. Reich, er solle den analytischen Prozess nicht stören und den Kontakt zur Tochter lösen und Eva (ca. 10 Jahre alt) predigte sie, dass er „verrückt“ sei und sie „ihn aufgeben solle“ (77-79).[3]

1934 lud Reich seine Kinder zu sich und seiner Freundin nach Dänemark ein. Sie verbrachten eine gute Zeit und fuhren dann über Frankreich nach Luzern zum Psychoanalytischen Kongress. Dort erfuhr er, dass er auch hier hinausgeworfen war. Den folgenden Wutausbruch bekamen dann wieder die Kinder mit.

Biografie und Werk

Es war nicht leicht, Tochter dieser exponierten Eltern in dieser Zeit zu sein. Insbesondere die oft schlechte Beziehung zu ihrem Vater hat bei Lore tiefe Spuren hinterlassen. Im Vorwort steht folglich: „Möge dieser Einblick nicht dazu dienen, seine Errungenschaften, seinen großen Geist und sein Wirken in den Schatten zu stellen“.[4]

Biografie und Werk sind zwei unterschiedliche Lebensbereiche. Es ist gut, wenn Lore auch negative Aspekte ihres Vaters aus den Schatten holt. So können beide Lebensbereiche deutlicher angeschaut werden und auch in ihrer Verschiedenheit gewürdigt werden. Wilhelm Reich hat aber immer das gleichzeitige Denken in Unterschieden und Identitäten gefordert. So bleibt die Frage: Welche zugrunde liegende Identität drückt sich in den unterschiedlichen Lebensbereichen Biografie und Werk aus? Worin sind sie identisch? Die Klärung dieser Frage würde somit auch zu einem tieferen Verständnis seines Werkes führen.


Quellen:

  1. Eine umfangreiche Biografie, die auch die persönlichen Hintergründe gut herausarbeitet: Myron Sharaf: Wilhelm Reich – Erforscher des Lebendigen. Gießen 2019

  2. Lore Reich Rubin: Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Anni Reich und Wilhelm Reich. Gießen 2019

  3. Darstellung der Situation aus der Sicht von Eva Reich: Zur Überwindung des »heiligen Zorns« in Eva Reichs Leben

  4. Vorwort von Wolfram Ratz (Seite 8)

Die Bilder von Lore Reich stammen von der Seite „Mit Freud in Berlin
Das erste Bild ist ein Auschnitt vom Cover des Buches

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1 Kommentar
  1. Ela
    Ela sagte:

    Hallo Ingo – hast Du mal darüber nachgedacht, Deine Rezension dem psychosozial-Verlag zur Verfügung zu stellen? Ich habe online die „offizielle“ Rezension gelesen und die ist bestimmt nicht schlecht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass Deine für Insider sehr viel interessanter ist. Liebe Grüße Ela

    Antworten

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