Lebewesen oder Mensch
Es ist kalt, dunkel und abweisend. Und in diese unwirtliche Welt gibt Gott etwas von sich hinein. Und die Welt beginnt zu strahlen, Liebe zeigt sich und wird lebendig. Dies ist ein starkes Bild, das wir Weihnachten nennen.
Die Vorstellung ist nicht neu. Schon zu Beginn der Bibel nimmt Gott einen kalten toten Klumpen Erde, formt etwas daraus und haucht seinen Atem hinein. Und so entsteht ein lebendiges beseelte Wesen (1 Mose 2:7).
Wir sind somit Teil der göttlichen Welt und gleichzeitig von seinem Atem durchdrungen. Dies war ein Selbstverständnis von Verbundenheit, das uns lange getragen hat.
Seelenlose Lebewesen
Ein paar Jahrtausende später verlieren wir die Seele und werden zu Objekten der Wissenschaft, die in uns bis heute komplexe Maschinen sieht.[1]
Wir sind keine inspirierten Lebewesen mehr,
sondern einfach nur noch kompliziert.
Was bist du?
Auf die Frage „was bist du?“ antworten die meisten wohl mit: „ein Mensch“. Wir sehen uns als Menschen im Zentrum der Welt. Dass jemand antwortet: „Ich bin ein Lebewesen“ kann ich mir kaum vorstellen.
Dabei ist das Leben wohl das größte Geschenk überhaupt. Als Lebewesen haben wir eine Umwelt[2] mit der wir in Resonanz gehen können, als Lebewesen haben wir Emotionen und als Lebewesen können wir einen stimmigen Platz einnehmen, den man als Glück wahrnehmen kann.
Leben ist alles, Menschsein eine Zugabe.
Wer Sinn und Lebendigkeit sucht, kann ihn hier finden. Wir müssen dieses Wissen nur zum Maßstab unseres Handelns machen.
Tote Menschenwelt
Die Betonung des Menschseins soll uns vor allem abheben von dem Tiersein, den anderen Lebewesen und der Natur. Und wie um das zu beweisen, stopfen wir die Welt voll mit toten Gegenständen. Diese sind längst keine Werkzeuge mehr, die uns zur Verfügung stehen. Sie sind eine neue Umwelt, in die wir uns integrieren müssen.
Die Lebenswelt ersetzen wir durch eine Todeswelt.
Kommunikation, Bewegung, Kontakt usw. sind schon lange durch Regeln der toten Technik definiert.
Selbst das, was wir Natur nennen, ist für die technische Nutzung durchstrukturiert. Und schon längst werden Implantate entwickelt, die unser Gehirn endlich voll kompatibel mit dieser Welt machen sollen. Diese Anpassung durch Digitalisierung und KI ist explizites Ziel der nächsten Jahre. [3]
Mir macht dieses Fallen in die Entfremdung Angst!
Mein Wunsch
Es fällt nicht leicht, die Verheißungen der toten Technik wie Macht, Kraft, Sicherheit und Wissen in Frage zu stellen und sich auf das pulsierende Leben in seiner Unverfügbarkeit und den unwillkürlichen Momenten einzulassen.
Aber wenn ich meine Sehnsucht nach Lebendigkeit ernst nehme, gibt es keine Alternative!
Ich wünsche mir, dass ich und viele andere aufhören, das Menschsein zu glorifizieren und stattdessen deutlich sagen: ich bin ein Lebewesen wie die anderen Lebewesen auch und dies ist der zentrale Maßstab meines Lebens.
Ich unterscheide mich vom Apfelbaum, Regenwurm und Elefant, aber als Lebewesen sind wir identisch. Das macht meine Verbundenheit mit der Welt aus.
An einer Stelle ist mir aber mein Menschsein wichtig: als Mensch weiß ich um die Begrenzung des Lebens. Ich weiß um den Tod und dass ich sterben werde. Und ich weiß: ohne Leben bin ICH nichts.
Auch darum ist mir das Leben heilig – mit und auch ohne einen Gott.
[1] „Ich habe Recht! Der menschliche Körper ist ein Uhrwerk, jedoch ein riesiges und mit solchem Einfallsreichtum und Geschick konstruiert, dass, wenn der Sekundenzeiger stehenbleibt […], der Minutenzeiger sich weiterdreht und seinen Lauf fortsetzt.“ (1748) Julien Offray de La Mettrie: Man a machine. Chigago 1912, S. 141
Neben diesem Hauptstrom blieb die Vorstellung von der Seele bestehen. Sie wurde von den Vitalisten noch durch eine kaum fassbare Lebenskraft ergänzt (z.B. H. Bergson „elan vital“, H. Driesch „Entelechie“) und W. Reich fügte dem die naturwissenschaftlich erforschbare Lebensenergie „Orgon“ hinzu.
[2] Vgl. Jakob von Uexküll 1921: Umwelt und Innenwelt der Tiere. Berlin: J. Springer
[3] „Der Mensch, wie er im Moment konstituiert ist […] hat die Grenzen der Optimierung und der Steigerung des subjektiven Wohlbefindens augenscheinlich erreicht. Als ‚Funktionshemmnis‘ infolge seiner mangelhaften biologischen Anlagen verharrt er in steter De-Synchronisierung mit der technischen Welt. Um dies zu korrigieren, so die transhumanistische Idee, bedarf es der radialen Anpassung an bzw. Verbesserung durch advanced technologies.“ Stollfuß, Sven (2016): Differently Constituted Bodies and Minds. Transhumanistische Ansätze in der Beschleunigungsgesellschaft. In: A. Beinsteiner und T. Kohn (Hg.): Körperphantasien. Technisierung – Optimierung – Transhumanismus. Innsbruck, S. 175–190. S. 187
Hallo Ingo
Ergreifend! Wieder einmal ein neuer Aspekt, Blickwinkel auf Tatsachen, die uns eigentlich allgegenwärtig und scheinbar unabweisbar sind – mehr noch. Genau wie wir Angst davor haben können, so gehört auch Mut dazu, diese Angst auszusprechen. Danke! Ela
Ja, gute Gedanken! Danke.
Und mir reicht es nicht die Angst nur zu benennen…..
Ich gehe in die Kirche, meditiere regelmäßig ,suche viel Unterstützung bei anderen Menschen um mich eben dieser Angst zu stellen.
Das geht nur mit Liebe. Dann kann ich mich als Lebewesen und als Mensch verstehen.
Am besten jeden Tag Weihnachten feiern😉
Frohe Weihnachten Annette
Vielen Dank für eure Kommentare.
Ja, Angst wahrnehmen, aussprechen und etwas dagegen tun finde ich auch wichtig.
Aber was haltet ihr von meinem Lösungsvorschlag, das eigene Menschsein nicht mehr so wichtig zu nehmen, es an die Seite zu schieben und stattdessen das Merkmal ein Lebewesen zu sein, ins Zentrum zu stellen?
Nicht mehr: ich bin ein Meinsch, sondern ich bin ein Lebewesen zu sagen.
Nein.
Ich bin Lebewesen und Mensch.
Spannender finde ich mir das anzugucken und ggf. zu verändern, was du „an die Seite schieben “ willst… ….
Ja,
ich bin Lebewesen und Mensch
und ich bin Deutscher und Mann und vieles mehr.
Wenn ich die Welt immer als Deutscher betrachte, sieht sie anders aus als wenn ich sie als Mensch betrachte. Ich sehe dann andere Zusammenhänge und verhalte mich auch anders.
Wir leben mit massiven Problemen, die sich daraus ableiten, dass wir die Welt aus der Perspektive des Menschseins betrachten. Wenn wir die Perspektive eines Lebewesens einnehmen würden, würde das sehr viel ändern und neue Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.
Ganz ähnlich wie das Problem des Nationalismus ohne die Perspektive des deutsch seins nicht funktioniert.
Was ich mit dem Menschsein „an die Seite schieben“ möchte habe ich im Artikel angesprochen.
Ja, das stimmt. Was du „an die Seite schieben möchtest“ hast du gut beschrieben.
Dann bitte nochmal:
Was sind die neuen Handlungsmöglichkeiten, die sich mir als Lebewesen auftuen?
Als Mensch sind wir „Krönung der Schöpfung“, später „Zentrum der Welt“ oder „Gestalter der Welt“, also immer irgendwie außen vor oder oben drüber, unverbunden auf einen eigenen Weg.
Als Lebewesen könnten wir quasi auf Augenhöhe kommunizieren, uns als Teil von mehr erleben.
Ja.
Leben ist alles und Mensch sein eine Zugabe.
In dieser Zugabe nehme ich in erster Linie eine Verantwortung wahr.
Und angesichts der Weltlage und meiner Lage darin , die Verantwortung sich wieder auf Verbundenheit auszurichten
……
Hallo Ingo
Ein Mensch lebt und muss sich deshalb als Lebewesen fühlen. Biologisch betrachtet ist ein Mensch mehr ein Tier als eine Pflanze oder ein Mikroorganismus
Ich glaube hier braucht es mehr Klärung.
Hallo Andreas,
ja, da braucht es mehr Klärung und gerade die Biologen sind mir da wichtig 😉
Ja, wir Menschen sind und auch Tiere und auch Lebewesen.
Menschsein als Identitätsmerkmal ist konkret, das haben wir über Jahrhunderte mit Inhalt gefüllt.
Tiersein als Identitätsmerkmal geht fasst gar nicht. Wir sind ja ständig damit beschäftigt unser Menschsein in Abgrenzung zu den animalischen Anteilen zu definieren. Tiersein ist in uns das (unkultivierte) zu Überwindende barbarische, plumpe usw.
Lebendigsein als Identitätsmerkmal ist allenfalls eine abstrakte Kategorie (darum erscheint ja auch das was ich will als eine abstrakte Forderung). Klar leben wir, aber was soll das schon heißen?!
Wir definieren Menschsein als Sonderstellung in der Natur, als Überwindung des Tiersseins, als (Stück für Stück) Überflüssigmachung des Lebendigseins.
Ja, es braucht Klärung was und wer wir sind. Und mir ist es wichtig, dass wir im Wesentlichen Lebewesen sind. Nur so können wir eine Position gegenüber der ganzen Technik beziehen.
Wichtig ist, dass lebendig sein konkret wird, wir dieses Merkmal mit viel konkretem Inhalt füllen und so zu einem realistischen Selbstbild kommen. Vielleicht gelingt es uns so dann auch irgendwann, unser Tiersein nicht ständig abspalten zu müssen.
Hallo Ingo
Danke für deine aufrüttelnden Worte.
Wir sind Menschen und Lebewesen.
Dennoch eine recht abstrakte Forderung, sich nicht so sehr als Mensch sondern mehr (nur) als Lebewesen zu fühlen.
Seitdem es den Menschen gibt, hat sich Leben um eine neue Seinsform erweitert. Dies zu ignorieren oder gar zu leugnen, wäre das nicht lebensfremd?
Wenn auch, sich auf die eigene Grundnatur zu besinnen, kann nützlich und klärend sein – den eigenen Körper und das Abhängigkeitsverhältnis zur Umwelt als Lebensgrundlage zu verstehen und zu respektieren sogar sehr.
Allen eine besinnliche Zeit!
Andreas
Hallo Andreas
Ich will nicht unser Menschsein ignorieren oder leugnen, sondern es als Identitätsmerkmal relativieren.
Seit ein paar Jahrhunderten strengen wir uns an, dieses Merkmal ganz ganz wichtig zu nehmen, uns immer wieder vorzubeten: wir sind Menschen und das ist wichtig. Diese Betonung hat zwei Fronten: zum einen gegen Gott. Wir wollen als Menschen ins Zentrum dieser Welt und ihn da rauswerfen (Neuzeit). Zum anderen gegen die Natur: wir sind als Menschen die Schöpfer einer eigenen Welt (Kultur).
Dieser Kampf um das Selbstverständnis als Mensch hat uns viel gebracht (z.B. Menschenrechte für alle). Aber er hat auch seinen Preis: z.B. Entfremdung vom eigenen lebendig sein und von den anderen Lebewesen. Ohne das Bewusstsein unseres Lebens verlieren wir es. Und da machen wir gerade sehr große Schritte.
Ich sage: lasst uns aufhören, all unsere Energie darein zu stecken, diesen Kampf weiter zu führen und uns krampfhaft als Menschen zu definieren. Es reicht!
Lasst uns unser lebendig sein wichtig nehmen und konkret werden lassen.
Wie sieht es aus, wenn wir als Lebewesen in Beziehung zur Welt gehen? Beispiel: als Lebewesen drücken wir uns emotional (Ausdrucksbewegung e-motion) aus und können uns entsprechend von anderen Lebewesen beeindrucken lassen. Als Mensch können wir diesen Vorgang reflektieren. Wenn wir aber unsere Emotionen vernachlässigen wird die Reflexion hohl, leer und starr. Und dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, diese Reflexion der starren KI zu übergeben.
Lebendig sein ist das was uns (noch) ausmacht. Wir sollten es auch ins Zentrum stellen.
Liebe Grüße
Ingo
Ja, danke, damit kann ich etwas anfangen.
Mir wird dadurch klar, dass Reflexion ja mit Entfernung zum reflektierten Gegenstand zu tun hat und, wenn dadurch ein Selbstverständnis gebaut werden soll, eine Entfremdung entsteht (Subjekt nimmt sich als Objekt wahr).
Hierbei geht etwas verloren, was uns Wert ist und (auch) ausmacht.
Auch wenn das jetzt alles sehr künstlich wirkt, kann man auch darüber reflektieren und sich fragen ob man alles Wichtige dabei hat. Das machen wir gerade ;-).
Die Frage bleibt, was Verstand und Vernunft machen können, um diese verlorene Dimension in das Gesamtbild über sich selbst einzubauen?
Vorschlag: Die Unfassbarkeit von „Lebendigkeit“ zu akzeptieren und, schon aus ökonomischer Sicht, darauf verzichten, ein Konzept dafür zu entwickeln. Dann geht es wieder zurück aus der künstlichen Welt der vernünftigen Reflexion in die Wirklichkeit und Verstand und Vernunft moderieren allenfalls und sammeln Eindrücke.
So in etwa?
Alles Gute für 2021!
Andreas
Lieber Andreas,
ich möchte auf diesen Kommentar und die Mail, die ich von dir habe in vier Abschnitten antworten. Deinen mitgelieferten Text von Schopenhauer über das Verhältnis zwischen Tieren und Menschen finde ich sehr gut und verlinke ihn hier.
1. Lebewesen, was ist das?
– Leben, Lebewesen abgrenzen ist leicht: Unterschiede zu Steinen, Maschinen und KI benennen.
– Leben, Lebewesen positiv bestimmen ist viel schwerer. Ja, das ist auch etwas Unaussprechliches dabei, wie damit umgehen usw.
– Aber das ist bei Menschsein doch das gleiche. Menschen von Tieren, Pflanzen abgrenzen geht gut, aber positiv bestimmen ist schwer. Wie kann man den Menschen benennen ohne nur immer wieder das Spezifische zu definieren?
Leben ist nicht abstrakter als Menschsein
2. Ist es sinnvoll Lebendigkeit (insbesondere das „Unfassbare“), mit der Vernunft zu beschreiben?
– Ich stimme dir zu: sehr oft wird die Lebendigkeit zum Objekt gemacht, es wird drüber reflektiert und so kommt es zu einer Entfremdung. Dies ist üblich zB in der Wissenschaft. Etwas Wesentliches wird so nicht angesprochen und wir arbeiten mit einem entfremdeten Blick auf das Leben.
– Ein Künstler kann demgegenüber eine andere Position zum Leben einnehmen. Er versteht dann sein Schaffen als einen Ausdruck des Lebendigen. Er stellt sich dem also nicht gegenüber, sondern fließt mit ihr.
Wilhelm Reich unterscheidet dementsprechend zwei Formen von Vernunft: die, die sich gegen den Strom des Lebens stemmt und die, die mit ihm fließt (vgl. W.R.: Äther, Gott und Teufel). Für mich ist es eine große Herausforderung neben dem instrumentellen Denken eben auch einer Vernunft Raum zu geben, die den Mut hat, mit dem Leben zu fließen. Diese Vernunft drückt die Lebendigkeit einfach aus – auch mit ihren „unfassbaren“ Aspekten. Von daher: ich finde es sehr sinnvoll auch mit unserer tollen Fähigkeit der Vernunft, sich dem Leben zu nähern.
3. Wenn wir uns als „Lebewesen“ verstehen, gilt nur das, worin wir mit den anderen Lebewesen identisch sind. Wir reduzieren uns. Das ist doch nicht sinnvoll, oder?
Nein, wir reduzieren uns nicht, sondern erweitern die Perspektive. Wenn ich mich zB als „Mann“ verorte, stehen die Aspekte im Vordergrund, die spezifisch männlich sind. Frauen stehen mir dann als das andere Geschlecht gegenüber. Das kann durchaus seinen Reiz haben, aber sie sind mir so auch fremd. Wenn ich mich als Mensch definiere wird mein Blick umfassender. Ich weiß immer noch um meine spezifischen Anteile als Mann, aber als Mensch sitze ich mit den Frauen in einem Boot und bin identisch mit ihnen..
Wenn ich mich als Tier oder sogar als Lebewesen definiere wird das Boot größer und ich sehe viel mehr, was identisch mit mir ist. Diese Identität zu erleben ist eine Herausforderung, so ähnlich wie es für einige AFD Wähler eine Herausforderung ist, Differenzen zwischen Hautfarben und Kulturen auszuhalten.
Der Preis der ständigen Differenzierung unserer Welt liegt darin, dass wir die Spannung, die zwischen dem Unterschiedlichen und dem Identischen besteht aushalten müssen. Also nicht nur zwischen den Unterschieden, sondern auch zwischen den Unterschieden und dem Identischen. Ansonsten kommen wir zB. zu dem Irrglauben als Menschen außerhalb der Welt zu stehen. So als ob die Welt uns fremd gegenübersteht. Wenn wir Teil der Welt (Natur) sein wollen (und ich will das!) müssen wir uns auch in dem Boot der Lebewesen bzw. Naturwesen definieren, die dieses lebendig sein eben als Mensch ausdrücken. So wie Elefanten das lebendig sein als Elefanten ausdrücken.
Ansonsten verlieren wir den Kontakt und müssen uns nicht wundern, dass wir die Natur mit ihren Lebewesen zerstören: Sie haben mit uns als Fremde ja nix zu tun.
4. Kann man mit Begriffen „Lebendigkeit überhaupt fassen?“
Ich sehe es wie du: Lebendigkeit hat etwas, dass sich einem „Erfassen“ oder in den Griff kriegen entzieht. Das ist eben etwas, dass sie vom toten unterscheidet. H. Rosa benennt dies als Unverfügbarkeit. Ich habe versucht, es als Unwillkürlichkeit zu umschreiben.
Wie oben angedeutet glaube ich, dass wir unser Denken, die Vernunft und unsere Wissenschaft genau dem anpassen müssen!
Es geht doch nicht darum, das Leben in ein totes Korsett zu packen, das offensichtlich große Schwierigkeiten hat, so etwas Wesentliches wie das Leben zu begreifen. Besser ist es, Denken, Begriffe (in ihrer Beschränkung), Wissenschaft usw. als Ausdruck vom Leben zu verstehen, die so gesehen dann natürlich weniger Probleme mehr mit dem Leben haben.
Genau da setzt meine „Sehnsucht nach Lebendigkeit“ an: ich möchte meine spezifisch menschlichen Aspekte voll ausdrücken können und gerade darin Teil einer lebendigen Welt sein.
Hallo Ingo,
als intellektuelles Wesen, entfremdet von meinen emotionalen Anteilen, konstruiere ich mich hinein, in ein etabliertes Konstrukt unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Ich interagiere mit meiner Kraft und meinem Wissen, erlebe mich als funktionierendes Element, erfahre Sicherheit durch Machtfülle. Mein Autopilot arbeitet erlernte und bewährte Strategien ab und variiert einige Einstellungsparameter, um die Gesamtperformance zu optimieren.
Alles im Einklang, solange man erfolgreich ist und man die Welt durch die rosa Brille betrachten kann. Erst wenn es oder „man“ nicht mehr richtig funktioniert, hilft der Autopilot nicht mehr weiter. Erst durch die Wand, den Abgrund oder Corona wird man wieder auf sich selbst zurückgeworfen und mit grundsätzlichen Fragestellungen zu unserem Umgang mit der Natur, unseren Reise- und Konsumgewohnheiten, Produktions- und Wirtschaftspraktiken, alternativen Ansätzen und der Notwendigkeit von richtungsweisenden Veränderungen konfrontiert.
Wir müssen vieles hinterfragen, unser Selbstverständnis überprüfen, uns selbst fragen, uns selbst hinterfragen. Wer oder was bin ich eigentlich? Was kann ich überhaupt tun, wenn es um das Überleben geht? Welche meiner internen Instanzen hat hier eigentlich was zu sagen und was sagt der eigentlich? Wer hat hier eine Orientierung? Was passiert hier eigentlich wirklich? Um was geht es, wenn man in größeren Zusammenhängen denkt? Was steht für uns als Art, für die Menschheit, auf dem Spiel?
Das wäre schon eine erstaunliche Leistung, auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Jetzt aber auch noch unser Menschsein zu hinterfragen und in Kategorien wie Sinn und Lebendigkeit zu denken, das erfordert wohl auch eine spirituelle Dimension, die uns neben der emotionalen Verbundenheit auch abhandengekommen ist.
An die „recht abstrakte Forderung, sich nicht so sehr als Mensch sondern mehr (nur) als Lebewesen zu fühlen“ komme ich nicht so recht ran, vielleicht, weil ich das Konstrukt einer Vorstellung brauche und nicht gewohnt oder geübt darin bin, mich auf meine emotionale Wahrnehmung zu verlassen.
Spannenden Jahreswechsel und ein lebendiges Neues Jahr
Schorsch
Lieber Schorsch,
vielen Dank für deine offenen Worte!
Ich kann dir gut folgen. Mir geht es oft auch so.
Aber das was ich vorschlage ist eigentlich sehr einfach. Alle Tiere können das – nur wir stellen uns da an.
Wir meinen, alles mit unserem (menschlichen) Geist in den Griff kriegen zu müssen, um uns so dann orientieren zu können. Wir würden lieber noch 100 Vorträge anhören oder 10 Jahre meditieren, anstatt einfach auf die in uns vorhandene Lebendigkeit zu vertrauen!
Dieses Vertrauen in die eigene Lebendigkeit ist große Sehnsucht und gleichzeitig der größte Horror: Wir könnten ja so wieder wie die Tiere werden.
So ist es zumindest für mich.
Es ist einfach, aber für uns Menschen nicht leicht.
Ich wünsche dir auch ein lebendiges neues Jahr. Wir können es gebrauchen
Ingo
Gerade heute Morgen habe ich folgenden Brief an jemand ganz anderen geschrieben:
… Meine positiven Richtungen finde ich nämlich gerade nicht in den Händen der freundlich Schaffenden, der Helfenden, der Sorgenden, derjenigen, die füreinander da sind. Ich finde sie bei denen, für die sie da sind. Und da nicht einmal bei den Menschen, unter Menschen, sondern bei den Tieren, bei den Pflanzen (um so friedlicher habe ich heute Ihren gefiederten Beitrag gehört). Meine Wahrnehmung ist die: Menschen werden überhaupt erst zu Menschen, wenn sie bereit und in der Lage sind, sich um ihre Erdenmitbewohner zu kümmern, wenn sie sich abwenden von sich selbst und von den anderen Menschen und beginnen, von Herzen Sorge zu tragen, für die mit denen wir leben und von denen wir leben – wir sind ja nicht Kannibalen, die meisten nicht. Wir sind Vegetarier, Veganer, Carnivoren. Wir stopfen alles in uns hinein, was nicht aussieht, wie wir selbst und was nicht unsere Sprache spricht. Dabei gehen wir höchst detailliert vor und lassen nur aus, was uns schlecht bekommt – also: erdweit betrachtet.
Ich habe eine Freundin, die sich seit Jahren für den Tierschutz einsetzt und inzwischen sogar eine Festanstellung in dem Bereich gefunden hat. Das ist ja selten! Festanstellung, Subvention und Gehalt kommen ja mehr auf der kapitalistischen Seite vor, die sich von Raubbau und Betrug ernährt. Tiere und Pflanzen lassen sich nicht betrügen – sie kontern mit Verschwinden; wir nennen das Artenschwund. Jedenfalls: Die Erfahrungen und Ansichten, die Herzensblicke und Sorgehände dieser Frau lassen mich jedes Mal vermenschlicht zurück. Jedes mal spüre ich etwas mehr, wie viel Distanz selbst ich noch zu Tieren und Pflanzen unentdeckt in mir verwahre. Sie ist durch das Mitempfinden, das Ertasten ihrer lebendigen nicht-menschlichen Umgebung überhaupt erst lebendig. Und darüber hinaus gehen ihre Gedanken aus dem eigenen Umfeld in fern liegende Mitwelten, die von, sich ihrer Taten bewussten, Menschen gerade nicht fürsorglich bedacht sondern unbesorgt genutzt werden. Nein wirklich: Solange wir Menschen immer nur über Menschen sprechen – an der Kommunikationsweise während der letzten Monate kann man das wieder gut beobachten – werden wir nicht zu Menschen. Wir bleiben Ungeheuer, die in Betrieben und auf Straßen Lebewesen mit Fell und Federn maschinell ausrotten und dabei den Schutz der Maschine im Auge haben.
Wenn ich so durch die Welt gehe, die Vögel singen höre, Bienen summen (mancherorts noch), Schmetterlinge flattern, es raschelt im Unterholz und auf dem freien Feld hoppelt (auch ein Wort, das wir einmal nicht mehr brauchen werden) ein Hase, wenn abends die Rehe (übrigens immer nur Rehe, wo sind die Hirsche zu der Zeit?) am Waldrand äsen und bei Regen die Würmer aus dem Boden kucken und von Maulwürfen verspeist werden – dann fühle ich mich lebendig. Es sind die, für die ich sorge. Mmh …