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Jesus war ein religiöser Extremist

Extremist-Jesus

„Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“ (Lk 9,59-62)

Extremist-Jesus

Jesus war ein Extremist

Er nahm keine Rücksicht auf Konventionen. Ihm ging es um die wesentlichen Dinge des Lebens. Er lehrte und handelte nach einer radikalen Sicht der Welt und befand sich sehr weit weg von der Mitte der Gesellschaft.

Er war ein religiöser Extremist

Seine radikale Interpretation der herrschenden Religion war das Zentrum seiner Weltanschauung. Seine politischen Aussagen leiteten sich aus dieser Religion ab.

Er war ein Fanatiker

Dem ordnete er alles unter. Dies begann bei seiner Familie und endete bei seinem Leben. Nichts sollte seinen Weg relativieren.

Extremist, aber kein Revolutionär.

Extremist Jesus doppeltIm Zentrum seiner Botschaft stand die Naherwartung vom Reich Gottes. Die baldige neue Welt wird aber von Gott eingesetzt und nicht vom Menschen erkämpft. Es macht daher keinen Sinn, die bestehende Welt z.B. mit Gewalt zu bekämpfen.

Die herrschende Ordnung wird von ihm in Frage gestellt, aber nicht bekämpft. Die Menschen sollen sich vielmehr auf das kommende Reich Gottes vorbereiten.

Jesus war als Extremist nicht tragbar und wurde als solcher gekreuzigt.

Der religiöse Extremist soll weg

Die Enttäuschung über das Ausbleiben vom Reich Gottes war groß. Die Nachfolger Jesu mussten die Botschaft umdeuten. Der religiöse Extremist Jesus musste noch einmal entfernt werden. Zwei Schritte sind dabei wichtig.

Jesus-ExtremistIm ersten Schritt wurde der Extremist besänftigt und der Radikalität beraubt. Aus seiner radikalen Botschaft wurde die Lehre der staatstragenden Kirche.

Als Jesus im 16. Jahrhundert noch einmal „in seiner unermesslichen Barmherzigkeit“ zu uns kam, wurde er vom Großinquisitor aufgefordert, wortlos wieder wegzugehen. In einer langen Rede erklärt er, warum er ihn sonst hinrichten lassen würde. Jesus „tritt an den Greis heran und küsst ihn sanft auf dessen blutlose Lippen. Das war seine Antwort.“ Der Vertreter der Kirche und der Extremist kommen nicht ins Gespräch, verstehen sich aber noch.1

Im zweiten Schritt der Distanzierung verliert die Religion die Deutungshoheit an die Vernunft. Die Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert drängt offensiv den Glauben als Grundlage politischen Handelns zurück. Glaube bekommt eine Nischenposition und wird durch die Wissenschaft abgelöst.

Vom radikalen religiösen Jesus bleiben abstrakte „christliche Werte“ übrig. So wichtig diese Werte immer noch sind, so ist ihnen der Stachel genommen und sie kommen ohne Glauben aus.

Der Extremist und wir

Rückkehr Jesu

Wenn Jesus heute zurückkäme, würde er von Wissenschaftlern empfangen. Sie würden mit ihm nicht wie die Pharisäer diskutieren. Sie würden ihm auch nicht wie der Großinquisitor einen Vortrag halten. Die Grundlagen einer Verständigung sind entfernt. Sie würden ihn als einen Psychotiker begutachten.

Der Extremist Jesus hätte mit seiner Naherwartung des Reich Gottes keine Anknüpfungspunkte mehr.
Aber es gibt heute religiöse Extremisten mit mehr Potential.

Fremd und einig

Gesellschaftlich gesehen können zwei Bereiche unterschieden werden:

  • Auf der einen Seite die machtvolle Mitte. Im Selbstverständnis liegt hier die maßvolle Vernünftigkeit.
  • Auf der andere Seite der aufmüpfige Rand. Ein Teil von diesem Bereich ist durch extreme Religiosität geprägt.

Beide Seiten erheben den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Daraus ergibt sich die Gegnerschaft beider Bereiche:

  • Die Mitte sieht die Ordnung bedroht und geht aus diesem defensiven Selbstverständnis gegen die Extremisten vor.
  • Der Extremist sieht sich ausgegrenzt und versucht sich offensiv mehr Raum zu erobern.

Beide beziehen gerade aus der Abgrenzung ihre Kraft:

  • Der Extremist verweist auf die Macht des erschlafften Mainstreams und präsentiert sich demgegenüber in Eindeutigkeit und Wahrhaftigkeit. Er hält der vernunftgläubigen Gesellschaft den Spiegel vor.
  • Der aufgeklärte Mainstream verweist auf das dunkle Mittelalter, das hinter jedem religiösen Extremisten lauert. Die Angst vor dem Rückfall zwingt zur ständigen Ausweitung der Vernunft.

So fremd wie sich der aufgeklärte Mainstream und der religiöse Extremist auch geben, in dieser gemeinsamen Grenzarbeit sind sie sich einig! Sie sind ein abhängiges Paar. Sie leben in unversöhnlicher Abgrenzung und brauchen sich gerade darin.2

Extremist-S_W

Paartherapie

Unsere Position zum religiösen Extremismus ist ambivalenter als uns lieb ist.3 Und wie in jeder Paarsituation gilt, dass man den Partner kaum ändern kann.

Wer den Extremismus bekämpfen will, muss die eigenen Selbstverständlichkeiten bearbeiten. Ohne die Vernunftgläubigkeit des Mainstreams würde dem religiösen Extremismus eine wichtige Basis fehlen.

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Quellen

1 F. M. Dostojewski: Der Großinquisitor. 1880.


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2 Diese hier skizzierte Argumentation findet sich ausführlich in ähnlicher Weise im Buch „Diedrich: Ausgrenzung mit Gewalt“ (vgl. auch Diedrich: Aus-einander-setzung mit Gewalt). Hier stehen sich nicht der religiöse Extremist und der Mainstream gegenüber, sondern u.a. der Rechts-Extremist und der Mainstream. Der Text führt von den Unterschieden und Gegensätzen dieser Gruppen hin zur zugrunde liegenden Identität, der sie beide ausweichen wollen.

3 Vgl. Modell der Kollusion aus der Paartherapie: „Das Kollusionsmodell zeigt, wie die individuelle Ambivalenz von Sehnsüchten und Abwehrhaltungen scheinbar mit einem partnerschaftlichen Beziehungsarragement aufgehoben werden kann, in welchem die regressiven Liebessehnsüchte der Partner und ihre gleichzeitige Abwehr miteinander korrespondieren.“ Jörg Willi: Psychologie der Liebe. Reinbek 2002, S.209

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3 Kommentare
  1. Ela
    Ela sagte:

    Hallo Ingo
    Ich muss es zwar noch einmal lesen, um es besser zu verstehen, aber wunderschön! Mich hat natürlich am meisten der Verweis auf den Großinquisitor gefreut, ein bewegender Auszug aus einem der drei weltbesten Bücher:)

    Liebe Grüße
    Ela

    Antworten
  2. Ela
    Ela sagte:

    „Owen Meany“ von John Irving und „Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco. Wobei alle drei Schriftsteller für mich Weltklasse sind, jeder auf seine Weise, aber der alte Russe ist und bleibt der Beste:)
    Liebe Grüße
    Ela

    Antworten

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