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Unanständige Zivilisierte

Unanständige Zivilisierte

Mit dem Finger auf andere zu zeigen, ist immer noch ein Weg, sich selber gut zu finden.

Unanständige Zivilisierte

Wer sich mit dem Rand der Gesellschaft oder mit abweichendem Verhalten beschäftigt, sagt immer auch, wie gut die Normalität aussieht.
Unanständige KeuleAls vor Jahren die Rechtsextremen mit ihrer Gewalt im Fokus standen, rief Kanzler Schröder zum „Aufstand der Anständigen“ auf.[i] Die Anständigen waren wir: wir, die wir unsere Steinzeitkeule schon längst vergraben haben und Probleme zivilisiert lösen.

Die von außen in unser Land kommenden Flüchtlinge sind eine ideale Möglichkeit, dieses Selbstbild immer wieder zu stabilisieren. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel in der ZEIT. [ii]

Anständige Unanständige

In einer guten Aufklärung der Flüchtlinge über unseren Karneval könne gezeigt werden, „wie wir sind und wie wir in diesem Land miteinander umgehen.“
Im Karneval treffen fremde Menschen aufeinander, „flirten und küssen“, „betrinken sich mit Ansage und bieten ihre Möhren feil“. Karneval ist grenzüberschreitend und eben auch sexuell.
„Wie soll man das bloß den Flüchtlingen erklären?“

Unanständige-KarnevalIm Karneval gilt: „Alles ist möglich“, allerdings nur bis zu dem Moment, „in dem einer nicht mitmacht“. Obwohl im Karneval Regeln außer Kraft gesetzt werden, „funktioniert diese Grenze“.
Und die Autorin bringt auch gleich die erstaunliche Begründung: „das Unanständige [ist] nur Kostüm“.
Unten drunter sind wir nach wie vor die zivilisierten Anständigen.
Gerade hier zeige sich, „wie wunderbar vernünftig dieses Land ist: Selbst wenn wir uns gehen lassen, kommt nicht mehr als zivilisierter Ungehorsam heraus.“

Einwände

Ich mag dieses Selbstbild nicht und möchte hier nur drei Einwände bringen:

  • Zivilisierte Menschen richten sich gegen das eigene Unanständige und kontrollieren ihre Affekte und Leidenschaften.[iii]
    Da unanständige Regungen unten gehalten werden, können wir anderen als Anständige gegenüber treten. Anständigkeit ist Ausdruck eines harten internen Kampfes. Die Autorin identifiziert sich so sehr mit dieser Art Anständigkeit, dass sie einfach alles umdreht: Anständigkeit wird zum Kern und das Unanständige zur Maske.
    Ausdrücklicher kann man sich da nicht selbst betrügen.
  • Unanständige DeutscheBei Kanzler Schröder ging es noch um den Gegensatz zwischen dem anständigen Mainstream und dem rechten Rand. Hier soll aber erklärt werden, wie wir Deutschen insgesamt sind.
    Und da ist diese Idealisierung der Deutschen nur noch absurd: egal ob geflirtet, getrunken oder gegrabscht wird: in diesem Land ist das nur Kostüm, das den zivilisierten Kern verdeckt. Wenn man bedenkt, dass darüber hinaus eben auch noch geschlagen, geraubt und vergewaltig wird, ist dies ein fatales Selbstbild, was uns als Deutsche da angeboten wird.
  • Das Bild richtet sich aber nicht nur an die Deutschen, sondern auch an die von außen kommenden Menschen. Hier geht es um Abgrenzung nach dem Motto: Wenn zwei das Gleiche tun, so ist es noch lange nicht Dasselbe. Deutsche sind innen anständig und legen sich zeitweise ein unanständiges Kostüm zu, bei euch ist das wohl umgekehrt. Um den nationalen Selbstbetrug plausibel zu machen, werden die Flüchtlinge als Gegenbild instrumentalisiert.

Wer tatsächlich glaubt, aufgrund der Selbstdisziplinierung sich einen anständigen Kern zuzulegen, unterliegt einem tragischen Irrtum.
Die Beschäftigung mit Sex, Karneval und Zivilisation kann im interkulturellen Kontext eine große Chance sein, das Selbstbild nachzujustieren. Ich hoffe, dass wir (wer sich auch immer damit angesprochen fühlt) aber diesen nationalen identitätsstiftenden Selbstbetrug nicht nötig haben.

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[i] Vgl. Ingo Diedrich: Aus-einander-setzung mit Gewalt. S. 202 (Kap. 3.:Über den Gewaltthematisierenden Mainstream)

[ii] Dagmar Rosenfeld: Deutschland extrem. Im Karneval regiert in weiten Teilen der Republik die Unanständigkeit. Wie soll man das bloß den Flüchtlingen erklären? In DIE ZEIT, 28.1.2016, S.8

[iii] Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd 2, Frankfurt/M 1976
Elias bietet eine der bekanntesten Beschreibungen des Zivilisationsprozesses. Die Drohgebärden der äußeren Instanzen wie dem Staat nehmen demzufolge langsam ab. Der Seelenhaushalt des Individuums übernimmt diese Aufgabe durch eine implementierte Kontrollapparatur. (S.327–328) Die unmittelbaren Affekte, die zwischen den Menschen nicht mehr zum Vorschein kommen dürfen, „kämpfen nun oft genug nicht weniger heftig in dem Einzelnen gegen diesen überwachenden Teil seines Selbst.“ (S. 331) Aus Fremdzwang wird Selbstzwang. Aus den dunklen Affekten erhebt sich ein Ich, das sich wacker zwischen den Fronten halten muss.

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